2.2 Kapitel: Befreiungstheologie

Gegen Ende meines Theologiestudiums in Sitten, VS, hörte ich zum ersten Mal von der Theologie der Befreiung in Südamerika. Dies vor allem nach der zweiten lateimamerikanischen Bischofskonferenz 1968 in Medellín, Kolumbien, an der auch Papst Paul VI teilnahm. Hier erhob die gesamte südamerikanische Bischofsversammlung im Beisein und mit Billigung des Papstes die “Option für die Armen” zur Leitlinie der kirchlichen Position. Sie ist also eine in Lateinamerika entwickelte Richtung der christlichen Theologie. Sie versteht sich als “Stimme der Armen” und will zu ihrer Befreiung von Ausbeutung, Entrechtung und Unterdrückung beitragen. Aus der Situation sozial deklassierter Bevölkerungsteile heraus interpretiert sie biblische Tradition als Impuls für umfassende Gesellschaftskritik.

Aber bald darauf ergaben sich, vor allem in konservativen Kreisen der Kirche, zwangsläufig erhebliche Konflikte, die häufig in Disziplinarmassnahmen gegen einzelne Geistliche mündeten. (siehe Kapitel: ein Mann Gottes, P. Federico). Andere wurden ermordet, wie Oscar Romero 1980, Erzbischof von El Salvador. Wieder andere schlossen sich der kolumbianischen Guerillaorganisation ELN (nationale Befreiungsfront) an, wie der kolumbianische Padre Camilo Torres oder die spanischen Priester Domingo Laín und Manuel Pérez.

Die Befreiung ist ein durchgehendes Thema der Bibel. Gerade hier kommt der Exodustradition im Alten Testament eine Schlüsselrolle zu: hier erscheint der Gott Israels als der, “der das Elend seines Volkes sieht und die Schreie über ihre Bedränger hört”. Exodus 3.7 (Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten).

Dies wird im Neuen Testament ebenfalls gleich zu Anfang bekräftigt, wo María als Lobpreis für die ihr zugesagte Geburt des Messias singt: “Er stösst die Mächtigen vom Throne und erhebt die Niedrigen. Die Hungernden füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen”. Lukas 1.54

Darum wird die Erlösung als Zentralbegriff der biblischen Botschaft nicht, wie in der traditionellen Theologie, ausschliesslich spirituell verstanden, sondern als eine sozialpolitische und ökonomische Veränderung. Somit ist das Heil, das die Bibel verkündet, nicht mehr nur auf das Jenseits bezogen, sondern auch auf die gesellschaftliche Realität im Diesseits.

Als ich Mitte 1970 in Bogotá ankam und mit meinem Sprachstudium begann, traf ich dauernd auf Gruppen von Bischöfen, Priestern, Schwestern und Laien, die diese neue theologische Ausrichtung diskutierten. Zudem nahm ich anfangs 1971 an einem sechsmonatigen Theologiekurs in Manizales (Kolumbien) über befreiungstheologische Katechese teil. Dies gab mir wichtige Impulse für meine spätere Pastoralarbeit in Leiva (siehe Kapitel: meine 25 Apostel).

Richard mit Bauern in Leiva 1975
“auch Freude und Musik ist befreiend!”, im Landjugendheim Arboleda.

Für mich war und ist es heute immer noch klar, dass die Theologie entweder befreiend ist, oder sie ist schlichtweg keine Theologie. Ich erinnere mich mit Schrecken an die Moraltheologie von Bernhard Häring beim Theologiestudium in Sitten. Eine auf 400 Seiten zusammengefasste Moraltheologie die mich immer an schwere Bürden erinnerte und nicht an eine frohe und befreiende Botschaft im Stil von Jesus Christus. Leider kam diese befreiende Ausrichtung in den 80er und 90-Jahren derart unter Beschuss, dass die bekanntesten Befreiungstheologen mundtot gemacht wurden: dies vor allem unter Johannes Paul II und Benedikt XVI. Ich erinnere mich noch bestens an einen Besuch des Polenpapstes in Nicaragua, wo er auch den dort bekanntesten Befreiungstheologen Ernesto Cardenal traf. Ernesto kniete sich vor dem Papst nieder, dieser gab ihm nicht einmal die Hand sondern erhob den Zeigefinger und drohte dem Priester wie ein erzürnter Vater seinem Kind. Die Szene wurde mehrmals im hiesigen Fernsehen ausgestrahlt.

Doch beim Kolumbienbesuch des jetzigen Papstes Franziskus, (September 2017) den ich mit viel Interesse verfolgte, hatte ich den Eindruck, dass sich wieder einiges in die befreiungstheologische Richtung öffnet. Aber es ist offensichtlich so, dass es noch viele dunkle Kräfte in der Kirche gibt, die den Stil von Franziskus nicht teilen wollen. Auch hier in Kolumbien sprachen ultrakonservative Kräfte vom jetzigen Papst als Verräter.

Auf alle Fälle hat mich diese theologische Ausrichtung in diesen 47 Jahren in Südamerika immer begleitet und ist heute noch die Kraftquelle aus der ich und meine Mitarbeiter in der Stiftung Apoyar schöpfen können.

Zum Abschluss dieses Themas ein Bibelzitat aus dem Jakobusbrief, das wohl keiner Erklärung bedarf:

“Höret, ihr Reichen! Weint und klaged über das Elend, das euch erwartet! Euer Reichtum ist verfault. Eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet, und der Rost wird beweisen, wie ihr an eurem Reichtum gehangen habt: er wird euch wie Feuer verzehren! Schätze habt ihr aufgehäuft kurz vor dem Ende aller Dinge. Ihr habt den Arbeitern, die eure Felder mähten, den Lohn vorenthalten. Das schreit zum Himmel. Und die Klagerufe der Arbeiter sind dem Herrn der Welt zu Ohren gekommen. Ihr habt auf Erden geschwelgt und geprasst und euch an den Schlachttagen gemästet. Ihr habt dem Gerechten sein Recht und sein Leben genommen, und der konnte sich nicht wehren gegen euch!” (Jak. 5,1-6)

3.1 Kapitel: Ein Mann Gottes

Kurz nach meiner Ankunft in Kolumbien 1970 kam ich zur klaren Einsicht, dass diese meine Südamerikamission nicht Monate oder 3 Jahre dauern, sondern einen grossen Teil meines künftigen Lebens einnehmen würde. Aus diesem Grund fragte ich in Bogotá andauernd nach nachahmbaren Projekten, nach Personen oder Gruppen, die sich in besonderer Weise den Armen widmeten. So lernte ich das halbe Land kennen: von der Pazifik- bis zur Karibikküste, fast alle grösseren Städte des Landes und eine Reihe von landwirtschaftlichen Projekten. Dabei reiste ich nie im Flugzeug; im Bus und Taxi bekam ich viel mehr zu sehen und konnte unzählige, spannende Gespräche führen und viele interessante Menschen kennen lernen.

Was mich besonders interessierte war die Pastoralarbeit der katholischen Kirche, vor allem wegen der Befreiungstheologie , von der ich damals, und auch heute, voll überzeugt war und bin.
So wurde ich auf einen Priester in der Millionenstadt Medellín aufmerksam gemacht: Padre Federico Carrasquilla. Er war damals Pfarrer in einem der ärmsten und gewalttätigsten Viertel. Er war bekannt wegen seiner äusserst einfachen evangelischen Lebensweise und seinem entschiedenen Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in diesem Gebiet Medellíns.

Nach etwas Herumfragen erhielt ich Telefon und Adresse dieses Priesters und nahm mit ihm Kontakt auf. Es wunderte mich ein bisschen, dass er gleich einverstanden war, mich einige Tage bei sich aufzunehmen und es mir erlaubte, Einblick in seine Arbeit zu gewähren. Typisch kolumbianische Gastfreundschaft!!

Damals dauerte die Reise im Bus von Bogotá nach Medellín etwa 12 Stunden. Als ich im Busterminal in Medellín den Taxifahrer bat, mich ins Viertel Las Delicias zu bringen traute sich dieser seiner Augen nicht. Es dürfe doch nicht wahr sein, dass ich, ein Ausländer – “gringo” – in diesen Teil der Stadt wolle. Doch ich wollte und musste ihm dann noch einiges mehr bezahlen, denn selbst Taxifahrer wollten nicht unbedingt in diese Hölle. Und so kam ich mit gemischten Gefühlen, ein bisschen Angst und doch gespannt, auf das Treffen mit P. Carrasquilla in seine Pfarrei. Aber dies alles löste sich in Freude auf, nachdem ich auf eine einzigartige, in Medellín übliche, Herzlichkeit empfangen wurde.

Ich blieb gleich 2 Wochen und musste lernen, dass man in Antioquia (Dept. mit Hauptstadt Medellín) zu jeder Tages- und auch Nachtzeit Arepa isst – eine Art Maisfladen, speziell beliebt in diesem Landesteil. Anfänglich fehlte mir doch das Walliser Roggenbrot, doch es blieb mir keine andere Wahl. Heute bin ich ein begeisterter Arepa-Esser, da auch meine Frau aus diesem Landesteil kommt und sie mich überzeugen konnte.

P. Federico Carrasquilla

Aber nun zurück zu Federico: ein grossartiger Mensch: liebenswürdig, gesprächsfreudig, tief gläubig und äusserst beliebt in seiner Pfarrei. Aber auch fest überzeugt, dass nur ein gerechtes System dem Evangelium entspreche. Und so handelte er denn auch. In Las Delicias – “die Wonne” – gab es vom Guten nur wenig, dafür aber viel vom Bösen.

Das Erziehungsangebot war äusserst beschränkt und auf einem sehr tiefen Niveau. Zudem konnten viele Kinder nicht in die Schule. Die Eltern waren so arm, dass sie das Schulmaterial nicht kaufen konnten.

Die meisten Jugendlichen in Las Delicias bekamen somit keine oder nur eine sehr schlechte Ausbildung. Aus diesem Grund war ihnen der Arbeitsmarkt in Medellín nicht zugänglich. Dies wiederum führte dazu, dass viele sich bald auf der Seite des Verbrechens befanden: Überfälle, Raub, Drogenhandel und sogar Totschlag. Der später in Medellín lebende und weltbekannte Drogenboss Pablo Escobar hatte es leicht, in diesen Vierteln seine Mörder zu rekrutieren.

Auch die Gesundheitsversorgung war miserabel: kranke Menschen, aus Las Delicias, hatten kaum Zugang zur medizinischen Versorgung und mussten meist mit Naturheilern Vorlieb nehmen.

So setzten sich die Pfarrkinder unseres P. Federico aus einer aus allen Teilen des Departementes Antioquia zusammengewürfelten Menschengruppe zusammen, deren Überleben in Medellín kein Zuckerschlecken war. Als Pfarrer war er sich dieser Situation voll bewusst und hatte sich von Anfang an entschieden, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen zu kämpfen. Er war auch tief geprägt von der Befreiungstheologie und lehnte mit Vehemenz die von den spanischen Kolonialtheologen den Armen gegenüber gepredigte Vertröstung aufs Jenseits ab.

Gerechtigkeit soll nicht in die Ewigkeit vertröstet werden; sie soll hier und jetzt gelebt werden können.

Dies hiess aber keineswegs, dass Federico nicht aus einem tiefen Glauben lebte und Kräfte sammelte um diese Lage zu verbessern. In seinen Predigten suchte er die Gläubigen zu überzeugen, dass sie zusammen, und mit der Gnade Gottes, ein gerechteres Leben suchen müssen.

Aus diesen Gründen half er, Kommissionen der Bewohner zu organisieren und begleitete diese immer wieder zu den zuständigen Behörden: zum Erziehungssekretariat, zu den Verantwortlichen des Gesundheitswesens, zu den Polizeibehörden etc. in Medellín. Anfänglich wurden ihm und seinen Leuten die Türen geöffnet, man liess sie sprechen und versprach Verbesserung. Aber die Zeit – Jahre – verging und es erreignete sich nichts. Für die Politiker an der Macht war die Situation der Leute in Las Delicias nicht der Rede Wert. Aber Federico liess nicht los und immer wieder sprach er in den Verwaltungsgebäuden vor, nie allein, immer mit Gruppen aus dem Viertel.

Und so wurde er langsam zu einem Störfaktor. Man begann den Pfarrer von Las Delicias zu hassen und nannte ihn einen Kommunisten. Und nicht genug damit, man suchte Audienzen mit dem damaligen Erzbischof von Medellín: Mons. Alfonso López Trujillo. Immer wieder wurde Federico als der linke Pfarrer, der Kommunist und Ruhestörer gebrandmarkt. Schritt für Schritt liess sich Monseñor López überzeugen, dass Pfarrer Federico nicht der gefügige Hirte seiner Schäfchen und gehorsame Untertane der bischöflichen Gewalt sei. Etwas müsste nun geschehen! Mehrere Unterredungen im erzbischöflichen Palast brachte die beiden Gottesmänner auch nicht näher. Schlussendlich nahm der Kirchenfürst eine drastische Entscheidung: er enthob Federico seines Amtes als Pfarrer und ernannte ihn auch nicht in einem anderen Teil der Diozese. Aber P. Federico blieb in Las Delicias und kämpfte weiter um ein menschenwürdigeres Leben seiner Freunde.

Und nun noch ein Wort zu Mons. López Trujillo. Es handelte sich zweifelsfrei um einen äusserst intelligenten, aber ebenso konservativen, kolumbianischen Theologen. Seine Karriere in der Kirche ging immer aufwärts. So war er Ende 1960 schon Sekretär der südamerikanischen Bischofskonferenz, dann wurde er zum Bischof geweiht und war einige Jahre auch Präsident der Bischofskonferenz. Dann erhielt er die Leitung der Diözese Medellín, einer der wichtigsten Kolumbiens überhaupt, denn das Dept. Antioquia war immer schon ein Ort mit vielen Priestern und Nonnen. Mons. López Trujillo lebte als Erzbischof in einem riesigen Palast im Herzen von Medellín.

Aber er zeichnete sich vor allem aus als eiserner Vertreter der ultrakonservativen Theologie. Die ganze Diskussion um die Befreiungstheologie war für ihn ein rotes Tuch, sie konnte in der katholischen Kirche keinen Platz haben. Dies hatte er mit vielen südamerikanischen Bischöfen so durchgeboxt. Um so weniger wollte er in seiner Diozese Priester, wie den P. Federico, wirken lassen. Federico musste seines Amtes enthoben werden.

Während nun mein Gastgeber Federico Carrasquilla keine Eucharistie mehr mit seinen Gläubigen feiern konnte, wurde López Trujillo kurz darauf von Papst Johannes Paul II zum Kardinal ernannt. Damit nicht genug, bat ihn Johannes Paul bald darauf, nach Rom zu zügeln und übergab ihm das päpstliche Sekretariat für das Familienwesen weltweit, wo er bis zu seinem Tode wirkte.

Ich hatte weiterhin Kontakt mit Federico und rund 10 Jahre später luden wir ihn öfters nach Bogotá ein, damit er dem Team von der Stiftung Apoyar über seinen Glauben und seine Arbeit berichtete. Seine engagierte Art hat wesentlich dazu beigetragen, dass unsere Arbeitsphilosophie mit den Ärmsten immer klarer und auch vom christlichen Glauben geleitet wurde.
Schlussendlich möchte ich ehrlich sagen, dass ich weder vor Federico, noch nach ihm, einen Menschen kannte, der auf derart konsequente Weise die Nachfolge Christi predigte und lebte.

Aber eben, Menschen wie er, haben in diesem ultrakonservativen Gefüge keinen Platz: wie Jesus müssen sie verschwinden und am Kreuz sterben!!

3.2 Kapitel: Meine 25 Apostel

Wenn man in eine Pfarrei mit 12’000 Einwohnern, verteilt auf Dorfkern und 35 Weilern, kommt, fragt man sich, wo man überhaupt beginnen soll. Mir war gleich klar, dass ich nicht einfach im Pfarrhaus sitzen kann und warten soll auf die Gläubigen, die vielleicht einen kirchlichen Dienst erbitten. In unserem Team war ich vor allem verantwortlich für die Verkündigung des Wortes Gottes. Und die gewaltige Ausdehnung der Pfarrei benötigte eine neue Art der Glaubensverbreitung. Ausgehend von einem katechetischen und befreiungstheologischen Seminars vor meinem Einsatz, beschloss ich, wenn möglich, in jedem Weiler einen Katecheten –“Apostel” – ausbilden und einsetzen zu können.

Gesagt, getan! Nach einigen Monaten Besuchen, Gesprächen und Abwägungen hatte ich eine erste Gruppe von 35 AnwärterInnen. Fast alle Weiler waren vertreten. Und nun begann die Ausbildung, die alle wichtigen Themen der christlichen Botschaft beinhalteten: Gott und die Welt, die wichtigsten Lehren des Alten Testamentes (die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, der Weg durch die Wüste, das gelobte Land…), die Propheten, die Geburt und die Lehre Jesu, des Christus. Die neu entstandene Kirche. Ihre Rolle in dieser Welt, ihre Lehre etc..

Wir trafen uns alle 14 Tage im Pfarrhaus und es dauerte 18 Monate bis ich einigermassen den Eindruck hatte, jetzt sind meine “Apostel” einsatzbereit. Von den 35, die den Einführungskurs begannen, blieben noch 25; vor allem junge Frauen und Männer, ledige und verheiratete. Natürlich halfen auch meine Teamkollegen bei dieser Ausbildung kräftig mit. Aber alle hatten verstanden, dass sie eine wichtige Mission auszuführen hatten.
Worin bestand diese? Folgende pastoralen Aufgaben sollten sie in ihren Weilern nun übernehmen (vorher besuchte ich jede Gemeinschaft und stellte den Katecheten vor, immer mit der Bitte, dass die Gläubigen nun in ihm einen Stellvertreter des Pfarrers sehen sollten..):

  • Jeden Sonntag führte der Katechet mit seiner Gemeinschaft einen Wortgottesdienst durch. Anfänglich übergab ich jedem einige Tage vorher die ausgesuchten biblischen Texte mit einer einfachen Erklärung. Nach einigen kleinen Anfangsschwierigkeiten klappte dies ausserordentlich gut.
  •  Eine weitere Aufgabe: sie sollten die Eltern auf die Taufe ihrer Kinder vorbereiten. Bald konnte ich feststellen, dass sie dies besser konnten als ich selber!!
  • So bereiteten sie auch die Kinder auf den Empfang der Ersten Heiligen Kommunion vor.
  • Sogar eine Vorbereitung zur Ehe lag drin. Die meisten hatten hier Erfahrung, ich noch keine!
  • Wichtig war die Durchführung der Vorbereitungen für die grossen Feste: die Weihnachtsnovene – 9 Tage vor dem Weihnachtsfest – ist hier in Südamerika ein wesentlicher Bestandteil des Glaubens. Aber auch die Karwoche ist wichtig!
  • Schlussendlich waren die Katecheten mit der Zeit auch soziale Leader-Figuren. Sie leiteten die Gemeinschaftstreffen, organisierten Arbeiten, die für das Wohl der Leute wichtig waren, wie Verbesserung der Wege, Reparation einer Schule, Verbesserung der Trinkwasserzufuhr etc.
  • Zur selben Zeit ging auch die Weiterbildung fort, nicht alle 14 Tage. Doch wir trafen uns mindestens einmal alle 2 Monate und evaluierten und planten für die kommenden Wochen.

Ich war äusserst zufrieden mit der Einführung und dem Erfolg dieses pastoralen Musters. Während meiner Amtszeit gab es in Leiva keine andere Kirchengruppen, “Sekten”. Scheinbar war, durch unser Muster, die Nachfrage nach Glaubensversorgung gedeckt, die Familien mussten sich nicht nach anderen Gruppen umsehen, wie es heute der Fall ist. (Rund 20% der Gläubigen in Kolumbien gehören heute – 2017 – nicht mehr zur katholischen Kirche!).

in der Katechetenausbildung

Nach 5 Jahren Anwendung dieser pastoralen Arbeit kam schlussendlich der für uns zuständige Bischof nach Leiva. Mit Stolz und einer gewissen Genugtuung stellte ich ihm diese unsere “Apostel”vor. Ich war überzeugt, dass das von uns angewendete Muster auch in anderen, ähnlichen, Pfarreien der Diözese Schule machen könnte. Doch ich hatte mich wieder einmal geirrt. Der Kirchenfürst zeigte kein grosses Interesse für diese Erfahrung, ja er verbot sogar folgendes: die Katecheten dürften ab sofort keine Kommunion an kranke und alte Menschen in ihre Weiler bringen.

Kurze Zeit darauf entschloss ich mich Leiva zu verlassen. Zudem hatte ich kurz vorher meine zukünftige Frau Ana Dilia kennengelernt. Sie fiel mir gleich auf als fröhliche Person auf, aber vor allem auch als Mensch, der meine Ideale teilte: die Sorge um die armen und ausgebeuteten Menschen und der Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft. Sie hatte auch eine spezielle Berufung: die Wertschätzung und Gleichstellung der Frau in der südamerikanischen Gesellschaft, was gerade in Kolumbien von grosser Notwendigkeit war. Nach unserer Heirat arbeitete sie immer mit grosser Überzeugung diesem Ideal nach: jahrelang begleitete sie Frauen auf ihren nicht immer leichten Wegen. (siehe Kapitel über Ana Dilias Einsatz für die Frauen).

So bat ich meine Oberen um die Rückversetzung in den Laienstand und wir heirateten am 24. Juni 1978 in Medellín. Ana Dilia und ich waren uns einig: wir müssen unserer Berufung folgen und uns weiterhin für die Armen und Entrechteten einsetzen. Kurz nach unserer Ankunft in Bogotá wurde ich gebeten die Leitung der schweizerisch-kolumbianischen Vereinigung Paz en la Tierra (Frieden auf Erden) zu übernehmen. Ich konnte diesen Verein während den kommenden 10 Jahren leiten.

Unseren beiden Kinder, Claudia Cristina und Julián, durften in Bogotá in der Schweizer Schule studieren, eine ausgezeichnete Mittelschule. Aber so wie diese Schule qualitativ gut war, waren die geforderten Schulgelder hoch. Plötzlich konnten wir den finanziellen Forderungen nicht mehr nachkommen (obwohl ich als Schweizer nicht den vollen Betrag zu entrichten hatte!) Und so musste ich mich wieder um eine neue Einkommensquelle umsehen. Schweizer Freunde boten mir damals die Direktion der Schweizerisch-kolumbianischen Handelskammer an, was ich gleich annahm, denn die Bezahlung war bedeutend besser.
Doch von dieser Arbeitserfahrung möchte ich in einem neuen Abschnitt berichten.

3.3 Kapitel: In den Favelas von Rio de Janeiro

Während den rund 10 Jahren als Projektleiter der Schweizer NGO Vivamos Mejor begleitete ich viele Entwicklungsprojekte in verschiedenen Ländern von Zentral- und Südamerika. Vivamos Mejor (leben wir besser!) war früher einmal in Brasilien tätig, aber nicht mehr während meiner Amtszeit. So erhielt ich den Auftrag vom Vorstand in Bern, (heute Zürich) mit neuen Sozialprojekten in Brasilien zu beginnen. Keine leichte Aufgabe, da ich Brasilien noch nicht kannte. Schliesslich erhielt ich die Anschrift von einem Schweizer in Rio, Erwin Zimmermann. Er vertrat die internationale Organisation “Moralische Aufrüstung” mit Sitz im Schweizer Städtchen Caux. Mit ihm nahm ich Kontakt auf, gleich war er begeistert von unserem Vorschlag, in einigen Favelas von Río für sehr arme Kinder zu arbeiten.

Da er selber nur wenig Kontakt zu den Favelas hatte, schlug man mir vor, mit Vertretern der katholischen Kirche Kontakt aufzunehmen, was ich denn auch gleich unternahm. Herr Zimmermann verwies mich auf eine Schweizerin, die schon sehr lange in Río lebte und einen Schweizer Bischof aus St. Gallen kannte: Frau Marlise Rostock. Zusammen mit ihr wurden wir schlussendlich von diesem Weihbischof im Bischofspalast in Río empfangen. (leider kenne ich den Namen dieses Bischofes nicht mehr). Ich stellte die Schweizer NGO Vivamos Mejor vor, sprach von den vielen Programmen in den meisten Ländern von Mittel- und Südamerika und schlug vor, dass wir mit der katholischen Kirche zusammen solche Projekte in einer oder mehrerer Favelas durchführen könnten. Es war für mich klar, dass diese Zusammenarbeit einen Einstieg in den Elendsvierteln riesig erleichtert hätte, denn die meisten dieser Viertel waren von kriminellen Banden kontrolliert. Zudem war ich immer noch überzeugt, dass die Kirche doch sicher auch ein grosses Interesse haben könnte, um die Situation dieser Kinder und ihrer Eltern zu verbessern.

Doch ich hatte mich wieder einmal geirrt. Der Kirchenfürst aus St. Gallen liess mich nicht einmal unser gesamtes Programm vorstellen als er gleich seine abweisende Haltung zeigte. Die katholische Kirche sei an der Zusammenarbeit mit keiner NGO interessiert. Sein angeführter Grund: die Familienplanung. Einwände meinerseits beeindruckten ihn nicht, die Morallehre der Kirche sei mit diesen Methoden nicht einverstanden, keine Geburtenkontrolle und Punkt! Er nahm sich nicht einmal die Mühe mich zu fragen, was unsere Haltung zu dieser Angelegenheit sei. Damit war der Besuch abgeschlossen und wir verliessen den Bischofssitz ohne Resultat. Vor kurzer Zeit (2017) habe ich vom Sohn des Herrn Erwin Zimmermann, Werner, erfahren, dass man den Herrn Bischof wieder in die Schweiz “zurückschickte”, wegen seiner übertrieben konservativen Haltung.

Favelas in Rio

Dank der Hilfe von Herrn Erwin Zimmermann und seinen Beziehungen zur “Moralischen Aufrüstung” konnten wir schliesslich eine erste Favela besuchen: Caleme war ihr Name. Der Schweizer stellte uns der Gemeinschaftsorganisation vor und die kleine Gruppe war von unseren Absichten begeistert. Caleme war nicht das allerschlimmste in Río; was ich in den kommenden Jahren zu sehen bekam ist nur schwer beschreibbar: extreme Armut, schlechte Erziehung, unzureichende medizinische Versorgung und, vor allem, eine überall anwesende Gefahr der Banden, die vor allem den Drogenhandel unter Kontrolle hatten. Ich habe dies einige Jahre später selber erlebt: zusammen mit unserem brasilianischen Projektleiter Milicio Ströher besuchten wir auch uns unbekannte Favelas, in der Nachbarschaft von Caleme. Noch am gleichen Tag, abends, wurden wir von einer bekannten Frau informiert, dass wir uns dabei in grosser Gefahr befanden. Da die Bandenführer dieser Favela uns nicht kannten, wurde bereits der Befehl erlassen, dass man uns töten solle, denn es handle sich sicher um 2 “gringos”, die weiss Gott was in diesem Teil Ríos zu suchen hatten. Dank dem Eintreten dieser Frau und ihrer Information, die sie den Verbrechern geben konnte, kann ich diese Zeilen heute noch schreiben.

In relativ kurzer Zeit eröffneten wir den ersten Kinderhort. Ich konnte sehr engagierte, junge Leute anstellen, die für eine gute Arbeit sorgten. Die vielen frohen und gesunden Kinder zu sehen war für mich von grosser Genugtuung.

Doch ich möchte noch auf eine weitere interessante Entdeckung in Río verweisen. In einem Teil dieser Memoiren spreche ich ausführlich von der Befreiungstheologie und den damit entstandenen Basisgruppen der katholischen Kirche. Mit dem Rechtsrutsch in der Kirche, vor allem unter Johannes Paul II, wurden auch diesen Gruppen die Luft entzogen, weil sie sich vermehrt um die soziale Situation der Ärmsten einsetzten. Damit waren die Basisgruppen bald einmal Geschichte.

In Caleme und anderen Favelas von Río, (auch in Teresópolis), wo wir mit den Jahren andere Kinderzentren organisierten, kamen plötzlich junge Leute auf uns zu und baten uns, ihnen die Möglichkeit zu geben, bei unserem Sozialeinsatz zu helfen. Bald einmal stellte sich heraus, dass diese jungen Menschen zu früheren katholischen Basisgruppen gehörten. Man hatte ihnen damals ein weiteres Wirken verwehrt und nach unserer Ankunft sahen sie wieder eine neue, sinnvolle Aufgabe. Mit Begeisterung nahmen sie an unseren Aktivitäten, sowohl mit den Kindern als auch ihren Eltern, teil.

4. Kapitel: Entführung

3. Mai 1988, Tag des Heiligen Kreuzes. Es war gegen Mittag, als plötzlich ein junger Mann neben mir im Büro der Schweiz.-Kolumbianischen Handelskammer stand, seinen Revolver aus der Handtasche nahm und mir zu verstehen gab, dass dies nun eine Entführung sei. Als der erste Schreck ein bisschen vorüber war, wollte ich trotzdem wissen, was wohl der Grund dieses Vorgehens sein könnte. Mit trockener und zorniger Stimme gab er mir zu verstehen, es sei die Guerillaorganisation ELN (éjercito de liberación nacional – nationale Befreiungsfront) und diese benötige mich für einige Tage, ausserhalb von Bogotá. Zudem fragte er gleich nach meinem Kollegen Wilfried Lehner, damals Direktor der Stiftung Paz en la Tierra (Schweizer und mein Nachfolger in diesem Amt). Da Wilfried in diesem Augenblick auf der Bank war, sollten wir nun auf ihn warten, denn er werde auch von der gleichen Organisation erwartet. Zur selben Zeit wurde das gesamte Büropersonal in einem Zimmer eingeschlossen und es wurde ihnen streng befohlen nicht zu schreien. Zudem wurden auch alle Telefonleitungen durchschnitten. Als nach einer halben Stunde Wilfried Lehner erschien, wurden wir angewiesen, in einen vor dem Haus wartenden Jeep einzusteigen und los ging die Fahrt. Wir fuhren südlich aus der Stadt Bogotá in eine mir unbekannte Gegend. Nach 2 Stunden kamen wir auf ein kleines Bauerngehöft und mussten in den 2. Stock hinauf. Unter der Stiege sah ich eine grosse Menge von Esswaren: Kartoffel, Mais, Kochbananen, Reis etc. Nicht ohne eine gewisse Ironie sagte ich zu Wilfried: die Sache wird lange dauern: bis wir dies alles gegessen haben!!

In diesem Bauernhaus warteten bereits einige Entführte, andere kamen im Laufe des Nachmittags noch dazu. Gesamthaft waren wir 8 Geiseln: 5 Ausländer ( 2 Schweizer, ein Franzose, eine Schwedin und ein Mexikaner) und 3 kolumbianische Zeitungs- und Fernsehleute. Die junge, kolumbianische, Fernsehansagerin, Gloria Gómez, war kurz vor den Mittagsnachrichten im Schönheitssalon, um sich auf die Mittagsnachrichten vorzubereiten. Sie wurde auf dieselbe Weise entführt wie wir, keine Zeit mehr um weitere Schönheitsmittel aufzutragen!!

Meine Gedanken waren in erster Linie bei meiner Familie; ich wusste nicht, ob Ana Dilia, meine Frau und die Kinder Claudia Cristina und Julián bereits informiert wurden. Tatsächlich war es so, dass innerhalb dieses ganzen Durcheinanders im Büro niemand daran dachte, meine Familie zu unterrichten. Erst als ich am Abend nicht, wie gewohnt, Daheim erschien, fragte Ana Dilia nach der Ursache.

Und nun begann der Alltag der Entführten: einerseits wurden wir von den Guerilleros genau über die Lebensordnung informiert; militärisch streng war alles bis ins kleinste Detail vorgesehen. Ungehorsam wurde nicht geduldet. Andrerseits begannen wir 8 entführten uns kennen zu lernen. Obwohl der Schrecken über diese Entführung in den ersten Tagen noch tief in den Knochen sass, begannen wir gegenseitig Kenntnisse und Erfahrungen auszutauschen. Dieser Schritt machte das Zusammenleben ein bisschen erträglicher.

Der grösste Schreckensmoment war für mich der zweite Abend etwa gegen 22:00 Uhr. Wir befanden uns alle bereits im Bett, alle im selben Zimmer. Die Zimmertür stand immer offen, das Licht durfte nicht ausgeschaltet werden und ein Guerillero musste uns die ganze Nacht bewachen. Ich konnte nicht gleich einschlafen und sah besorgt auf den Wachmann.

Neben der Schusswaffe hatte er noch eine Granate in der Hand. Und plötzlich sah ich, wie diese aus seinen Händen rutschte und auf den Boden fiel.

Mir war sofort klar: bis hierher hast du es geschafft!! Meine letzten Gedanken an meine Familie. Doch die Sekunden vergingen und es passierte nichts. Die Handgranate explodierte nicht und ich konnte noch ein Dankesgebet sprechen. Ob ich in dieser Nacht noch etwas schlafen konnte, ist mir nicht mehr klar, wahrscheinlich kaum!

Und so vergingen die Tage. Man machte uns klar, dass das eigentliche Ziel dieser Entführung eine Art Pressekonferenz sei, nur müssten wir noch auf die ELN-Chefs warten. Nach drei langen Tagen kamen diese und die Sache konnte losgehen.

Nach einer kurzen Einführung in die Konferenz war die ganze Sache ziemlich klar: man wollte uns über die von ihnen strikt abgelehnten Praktiken der Regierung informieren, welche grosse Naturvorkommen zu Schleuderpreisen an ausländische Grossfirmen praktisch verschenkte. Bei diesen Vorkommen handelt es sich um: Erdöl, Kohle, Erdgas, Gold, Smaragde etc. Mit gut erarbeiteten Statistiken wurden wir während 3 Tagen mit diesen Fakten bombardiert. Diese Entführungen sollten nun bezwecken, dass wir, vor allem die Ausländer, diese Zahlen und Fakten in den jeweiligen Ländern veröffentlichen. Nach dem 2. Tag Versammlung kam eine sehr interessante Diskussion zustande, denn die meisten, vor allem die Zeitungsleute, hatten auch eine grosse Erfahrung auf diesem Gebiete. Und jetzt, nach 4 Tagen auf dem kleinen Bauerngut ergab sich, was man in diesen Fällen das Syndrom von Stockholm nennt: eine sich schrittweise ergebende Sympathie zwischen Entführern und Entführten. Die Guerilleros nahmen ihre Masken ab und auch wir konnten uns freier bewegen. Das Gesetz, dass bei jedem WC-Besuch an der offenen Tür ein Guerillero stehen musste, wurde schlussendlich aufgehoben und wir konnten unsere Geschäfte ruhiger abwickeln. Vor allem für die entführten Damen war dies eine grosse Erleichterung.

Was die Vortrags- und Diskussionsinhalte angeht waren wir in vielen Punkten der gleichen Meinung. Es ist tatsächlich so, dass hier viele, wertvolle Vorkommnisse in der Natur, zu Schleuderpreisen ausgebeutet und verkauft werden. Heute (2018) immer noch! Ich denke hier an die Schweizer Grossfirma Glencore, die in riesigen Mengen Kohle im Norden Kolumbiens abbaut und zu hohen Preisen (mit Riesenverdienst) in Europa verkauft.

Nach dem 6. Tag dieses eigenartigen Aufenthaltes auf dem Land sassen wir stundenlang zusammen, plauderten und tranken Whisky. Mir fiel besonders auf, dass einige der jungen Guerilleras ihre kleinen Kinder dabei hatten und betreuten. Diese spielten oft zwischen Puppen und den Waffen ihrer Mutter.

Und noch ein für mich wichtiges Detail: am 3. Tag fragten mich die Entführer nach meiner Familie in Bogotá und wie wir (meine Frau und ich) uns im Alltag anredeten. Tatsächlich nannten wir uns gegenseitig “mijita” und “mijito”, etwa meine Kleine und mein Kleiner. (immer noch, obwohl wir schon über 70 sind!!). Diese Intiminformation gab ich gerne weiter. Und tatsächlich telefonierte an diesem Abend eine Guerillera meiner Frau Ana Dilia und gab ihr herzliche Grüsse von “mijito” und versicherte ihr, dass es mir den Umständen gemäss gut gehe und dass ich sie herzlich grüsse. Eine riesen Erleichterung für meine Frau und die Kinder.

Nach dem 6. Tag informierte man uns über die Rückkehr nach Bogotá. Dies sei nicht immer ein leichtes Unterfangen, weil es schon geschehen sei, dass die Soldaten oder die Polizei die Entführten finde und diese töte, um damit die Guerilla in ein schlechtes Licht zu rücken; so zumindest die Entführer. Ob dies stimmt kann ich nicht sagen. Auf alle Fälle kamen wir mit drei Autos nach Bogotá. Noch vor der Einfahrt in die 10-Millionen Stadt ruft die Fernsehansagerin Gloria Gómez in ihr Studio und gab die notwendige Information über unsere Übergabe ab. So kamen wir zusammen bis in ein bekanntes Restaurant im Zentrum von Bogotá. Während die Guerilleros uns aussteigen liessen und sofort danach verschwanden, traten wir ein. Ich sah bereits die Fernsehkameras und fühlte mich wieder in Sicherheit. Müde, mit einem Bart von 7 Tagen, aber glücklich; es war vorbei!!

Wilfried und ich trafen uns dann anschliessend in der Stiftung Paz en la Tierra mit unseren Frauen und Angestellten. Welch eine Freude einander wieder umarmen zu können! Dank sei Gott kam alles zu einem guten Ende, es hätte auch anders herauskommen können.

Die Frage kam dann immer wieder: in Kolumbien bleiben oder in die Schweiz zurück??

Nach langem hin und her entschlossen wir uns, vorerst in Kolumbien zu bleiben. Und dies aus folgenden Gründen:

  •  Mit unserer Arbeit fühlten wir uns dermassen engagiert, dass ein Fortgehen vorerst nicht in Frage kam.
  • Für meine Frau Ana Dilia wäre es doppelt schwer gewesen, ihre Familie und ihr Umfeld hier zu verlassen.
  • Zudem fühlten wir uns auch solidarisch mit so vielen Opfern des kolumbianischen Konfliktes und schlussendlich
  • Eine neue, sinnvolle Aufgabe in der Schweiz zu finden wäre sicher nicht leicht gewesen.

Wenn wir heute, nach 30 Jahren, diesen Entscheid nochmals fällen müssten: wir wären sicher in Kolumbien geblieben!

5. Kapitel: Ana Dilias Engagement mit vielen Frauen in den Armenvierteln Kolumbiens

Ana DiliaMeine Frau Ana Dilia hatte immer schon eine besondere Berufung für die Frauen in den Armenvierteln in Bogotá. Dass dies von absoluter Notwendigkeit war und immer noch ist, darüber besteht kein Zweifel. Die Frauen sind immer noch der am meisten ausgebeutete Teil der hiesigen Bevölkerung. Die Frau ist Sexualobjekt, Gebärmaschine, Hausfrau und muss dem Mann immer willig zur Seite stehen. Der südamerikanische Macho hat Weltruf!

 

Seit viele, vor allem junge, Frauen begannen, selbstständiger zu werden, hat die Gewalt ihnen gegenüber noch zugenommen. Sie werden nicht mehr nur geschlagen, viele werden von ihren Ehemännern und Partnern umgebracht. “Entweder du lebst weiterhin mit mir, oder aber mit keinem anderen”, so heisst oft das Todesurteil. Nach offiziellen Angaben wurden 2016 in Kolumbien 431 Frauen ermordet und 7 von 10 kommen die Gewalt zu spüren. Handkehrum kann sich der Mann selbstverständlich jede Menge von Untreuesituationen erlauben. So sagte mir neulich ein Taxichauffeur in Bogotá: bei so vielen schönen Frauen in Kolumbien darf es doch nicht wahr sein, dass ich immer mit derselben ins Bett muss!

Dazu kommt noch, dass viele, sehr junge, Frauen geschwängert werden und dies von absolut unverantwortlichen Männern, die sich einfach nach der Geburt aus dem Staub machen. Die staatliche Gesetzgebung zum Schutz der Frauen und Kinder ist völlig veraltet und ungenügend, dies wissen die meisten Männer auch.

Aus diesen Gründen begannen wir gleich (1980) mit der Förderung der Frauen in den Armenvierteln, später auch auf dem Land.

Nach unserem Moto der bewusstseinsbildenden Arbeit begann Ana Dilia mit Besuchen der Frauen in diesen Vierteln und lud sie ein, sich in kleinen Gruppen zu treffen; in einem der Häuser oder in Gemeinschaftsräumen.

Damit die Frauen überhaupt kamen, oder die Bewilligung ihres Mannes erhielten, sprach sie anfänglich von Kursen zum Lismen und Stricken.

Bei den Temperaturen von Bogotá, auf 2’600 M über Meer, waren die Frauen bald einmal interessiert dies zu lernen: Pullover, Strümpfe etc. für ihre Kinder, ihren Mann und sich selber!

So begannen eine Reihe von Strickkursen, jede Gruppe traf sich zweimal wöchentlich mit Ana Dilia. Da sie dies ausgezeichnet beherrscht, waren die Damen bald einmal begeistert. Nach einigen Sitzungen konnten sie bereits die ersten Strümpfe heimtragen, oder sogar einen Pullover für den Mann.

Arbeitssitzung

Doch die Bewusstseinsbildung lag nicht im Lismen der Strümpfe sondern im Dialog. Während die Nadeln hin- und herschwirrten, begann Ana Dilia mit der Gruppe immer über ein wichtiges Familienthema zu sprechen: die Rolle der Frau in der Familie und im Staat, das Leben mit den Ehemännern, die Kinder, ihre Erziehung, die soziale und wirtschaftliche Situation, die Frau und die Politik, die Familienplanung etc. Es kam zu äusserst interessanten Gesprächen und Stellungnahmen.

Schritt für Schritt traten die Frauen aus ihren engen und ängstlich-häuslichen Haltungen heraus und begannen eigene Meinungen zu bilden und auch auszusprechen.

Und es blieb nach den vielen Treffen und Gesprächen nicht nur bei der Bildung eines neuen Bewusstseins ihrer Stellung als Frauen und Mütter. Plötzlich bekam dieses Bewusstsein einen neuen, wichtigen, Inhalt: vom Dialog zur Aktion!

Auf diese Weise kamen in den 30 Jahren Arbeit von Ana Dilia rund 10 Frauenorganisationen zustande:

  •  Die meisten Organisationen oder Vereine starteten rund um das Ziel der Kleinunternehmung: Herstellung von einfachen Kleidern, die sich relativ leicht im gleichen Viertel verkaufen liessen. Dies beinhaltete vor allem 2 Ziele: die Frauen konnten sich weiterhin treffen, miteinander reden und als Personen wachsen. Zugleich hatten sie eine zusätzliche, wichtige, Einnahmequelle für sich und ihre Familie, vor allem für die Kinder.
  • Einige wenige Vereine der Frauen bildeten sich, rund um die Lösung der sozialen und politischen Probleme in den verschiedenen Armenvierteln. Einzelne Frauen dieser Vereine engagierten sich dann besonders bei der Lösung von gesundheitlichen, erzieherischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Andere nahmen aktiv an politischen Fragen teil und wurden sogar in wichtige Gremien gewählt, wo sie heute noch mitmachen.
  • Auch auf dem Lande (im Dept. Caldas, wo Ana Dilia auf die Welt kam und aufwuchs) organisierte sie Bäuerinnengruppen, immer mit der gleichen Arbeitsphilosophie: von der Bewusstseinbildung zur Aktion. 2 solcher Landvereine der Frauen widmeten sich der Produktion und dem Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten.
Eröffnung eines Kleiderverkaufszentrums
Eröffnung eines Kleiderverkaufszentrums

Obwohl Ana Dilia heute im verdienten Ruhestand lebt, hat sie doch immer noch Kontakt mit anderen Sozialarbeiterinnen der Stiftung Apoyar, die mit derselben oder ähnlichen Methoden diese so notwendige Förderung der Frau weiterführen. Darüber später ein sehr interessanter Bericht über den Erfolg dieser Anstrengung!

Venezuela am Abgrund

Was sich momentan zwischen Venezuela und Kolumbien abspielt ist kaum beschreibbar, aber noch unglaublicher ist die Situation von Millionen von Venezolanern. In diesem kurzen Bericht möchte ich davon erzählen, aber auch die Probleme beschreiben, die eine andauernde Massenflucht von Venezuela nach Kolumbien bedeutet.

Ich habe Venezuela noch vor der Herrschaft von Hugo Chavez kennengelernt, da ich Sozialprojekte des schweizerischen Zementherstellers Holcim in Venezuela betreute. Mein erster Eindruck war, verglichen mit Kolumbien, der grosse Reichtum dieses Landes. Venezuela besitzt die grössten Erdölvorkommen der Welt. Doch gleich wurde mir bewusst, dass eine kleine Gruppe von superreichen Familien dieses Land regierte und mit vollen Händen sich dieses Reichtums bediente. Dann machte sich schrittweise der bekannte Oberst Hugo Chávez bemerkbar, indem er diese ungerechte Verteilung des Reichtums kritisierte und gewann immer mehr Anhänger bis er schliesslich 1999 die Präsidentschaftswahlen gewann. Sein Wahlversprechen: der grosse Reichtum des Landes sollte allen zugute kommen. Die Begeisterung war riesengross, aber auch der Fluss der Ölmilliarden. Damals bezahlte man auf den internationalen Märkten noch über 100 USD pro Fass Öl. Nach seiner Linksphilosophie sollte nun alles verstaatlicht werden: alles gehört dem Volk! Auch die mir bekannte Zementfabrik Holcim wurde “dem Volk übergeben”. (Ob das Volk heute dort noch Zement produziert ist eine grosse Frage)

Die Ölproduktion brachte so viel ein, dass Chávez seinem Herzensfreund Fidel Castro das notwendige Erdöl für Kuba schenken konnte.

Doch dieser Ölsegen nahm plötzlich ein jähes Ende. 2013 starb Chávez und bereits 2014 fiel der Ölpreis um 72%, auf 28 USD. Damit war die Dollarschwemme aus dem Norden vorbei.

„Venezuela am Abgrund“ weiterlesen

Die Frau des Jahres – Yeisuly Tapias

In den letzten Kapitel habe ich immer wieder von unseren Bemühungen gesprochen, dass die in unseren Projekten beteiligten Menschen ihr Bewusstsein stärken müssen: ihrer Rechte und Pflichten als Menschen und Bürger des Staates inne werden, auch wenn sie zu den ärmsten Schichten gehören. Dass wir dabei wahre Wunder erleben konnten scheint zweifellos. Von einem solchen “Wunder” möchte ich heute schreiben.

Die junge Frau heisst Yeisuly Tapias und ist heute 29 Jahre alt. Ihre Kindheit ist geprägt vom kolumbianischen Konflikt: mit ihren Eltern und 8 Geschwistern lebten sie auf einem kleinen Bauernhof in San Diego, in einem Dorf im Dept. Caldas, wo wir schon seit 25 Jahren viele Menschen unterstützen (apoyar). In diesem Teil des Departementes bekämpften sich damals die Guerilleros und paramilitärischen Gruppen aufs Blut. Wer in den Verdacht kam, mit der gegnerischen Gruppe zu sympathisieren oder sie zu informieren, musste mit einem sicheren Todesurteil rechnen. So auch der Vater von Yeisuly. Die rechtsstehenden paramilitärischen Verbrecher hatten den Verdacht, dass er die Guerilleros mit geheimer Information bediente. So wurde er entführt, während 8 Monaten wusste die Familie nichts mehr von ihrem Vater, vielleicht hatten sie ihn in dieser Zeit schon ermordet.

Die Mutter namens Virtud (auf deutsch Tugend) musste mit ihren 8 Kindern nach San Diego ziehen, wo sie sich auch nicht sicher fühlte. So reisten sie bald darauf mit dem wenigen Hab und Gut nach La Dorada, einer Stadt am Magdalenafluss, mit rund 100’000 Einwohnern, wo sie sich einigermaßen sicher fühlten. Die ersten Monate und Jahre waren für Mutter Virtud ein enormer Kreuzweg: ihr Mann und Vater von 9 Kindern entführt und eine riesengroße Armut. Mit Kleider waschen und Häuser putzen hielt sich die grosse Familie über Wasser. Zu dieser Zeit begannen wir diese und andere von der Gewalt vertriebenen Frauen zu unterstützen (apoyar). Es entstand die Organisation von organisierten Frauen von San Diego (AMOSDIC: Asociación de mujeres organizadas de San Diego, Caldas). Sie widmeten sich der Herstellung von Kleidern und deren Verkauf. Dieses klein begonnene Projekt hatte viel Erfolg und die finanzielle Situation der Frauen und ihrer Familien begann sich zu besseren. Meine Frau Ana Dilia begleitete die Arbeit dieses Vereins. Damals war Yeisuly rund 16 Jahre alt. Wie sie, gab es auch viele andere vertriebene Jugendliche, die mit viel Opfergeist in die Schule gingen, aber ihre Zukunft war doch sehr dunkel. So bgann die Stiftung Apoyar mit einem Projekt zur Förderung dieser Jugendlichen. Es entstand ASOJE (Asociación de Jóvenes Emprendedores), Verein unternehmerischer Jugendlicher.

Zur selben Zeit versuchte der inzwischen freigelassene Vater von Yeisuly sein verlassenes Bauerngut in San Diego wieder in Griff zu bekommen. Obwohl man ihn riet, darauf besser zu verzichten, ging er mehrmals auf seinen kleinen Hof. Schlussendlich wurde er eines Tages in La Dorada ermordet, von wem weiss man heute noch immer nicht. Doch sicher hat es mit seinem Bauernhof zu tun. Ein neuer Schlag für seine grosse Familie!
Zurück zu Yeisuly und dem Jugendverein! Beeindruckt vom Erfolg ihrer Mutter und deren Geist zur Überwindung der schlimmen Situationen nahm sie immer aktiver an den Arbeiten der Gruppe teil. Nach kurzer Zeit war sie der denkende und führende Kopf der organisierten Jugendlichen. Die Arbeit mit dieser Gruppe von vertriebenen Familien war gar nicht einfach: die meisten litten unter psychologischen Schwierigkeiten. Aus diesem Grunde mussten wir immer wieder den Psychologen der Fundación bitten, die Jugendlichen zu begleiten. Mit einem Stipendium unserer Organisation konnten die meisten jungen Menschen ihre Mittelschule abschliessen. So auch Yeisuly, die dann mit einem Studium für Sozialarbeit begann. Inzwischen war sie die absolute Leiterin der Gruppe.

Zur selben Zeit wurde das Landwirtschaftsministerium auf sie aufmerksam. Diese Regierungsinstitution unterstützte ein Programm zur Förderung von Landjugendlichen in ganz Kolumbien. Yeisuly wurde gleich in dieses Programm eingebunden und erweiterte ihre Arbeit auf ganz Kolumbien. Ihr Erfolg war gross, so dass eine weitere Organisation sie ins Visier nahm: CAFAM. Es handelt sich hierbei um eine der grössten Sozialinstitutionen des Landes. Unter anderem ist sie die wichtigste Familienausgleichskasse Kolumbiens. Seit rund 30 Jahren wählt sie jährlich die Frau des Jahres, eine grosse Ehre, die jener Frau zugute kommt, die sich in besonderer Weise für ihre Mitmenschen eingesetzt hat.

Und diese Ehre fiel 2016 auf Yeisuly Tapias, mit nur 26 Jahren. Dieser Preis spornte sie an, weiterhin noch mehr für ihre Mitmenschen, vor allem die Jugendlichen aus dem Land, zu tun. Inzwischen wurde sie auch von einer internationalen Frauenorganisation in Genf eingeladen (www.woman.ch) Wahrscheinlich wird sie im Herbst dieses Jahres in die Schweiz kommen und auch dort einen Ehrenpreis erhalten.
Obwohl sie damit die Grenzen von Apoyar weit gesprengt hat und nun eine nationale Persönlichkeit ist, ist ihre enge Beziehung zu uns geblieben. Und sie bekennt immer und immer wieder, dass Apoyar dieses in ihr flammende Feuer entfacht hat.
Aber nicht nur Yeisuly sondern auch ihre jungen Freunde von damals in La Dorada sind alle denselben Weg gegangen. Die meisten arbeiten als Sozialarbeiter in verschiedenen Teilen des Landes.

Anad Dilia und Richard Aufdereggen

Für mich ist dies ein zweifelloser Beweis, dass unsere Methode der bewusstseinsbildenden Sozialarbeit auf dem richtigen Weg ist.