2.2 Kapitel: Befreiungstheologie

Gegen Ende meines Theologiestudiums in Sitten, VS, hörte ich zum ersten Mal von der Theologie der Befreiung in Südamerika. Dies vor allem nach der zweiten lateimamerikanischen Bischofskonferenz 1968 in Medellín, Kolumbien, an der auch Papst Paul VI teilnahm. Hier erhob die gesamte südamerikanische Bischofsversammlung im Beisein und mit Billigung des Papstes die “Option für die Armen” zur Leitlinie der kirchlichen Position. Sie ist also eine in Lateinamerika entwickelte Richtung der christlichen Theologie. Sie versteht sich als “Stimme der Armen” und will zu ihrer Befreiung von Ausbeutung, Entrechtung und Unterdrückung beitragen. Aus der Situation sozial deklassierter Bevölkerungsteile heraus interpretiert sie biblische Tradition als Impuls für umfassende Gesellschaftskritik.

Aber bald darauf ergaben sich, vor allem in konservativen Kreisen der Kirche, zwangsläufig erhebliche Konflikte, die häufig in Disziplinarmassnahmen gegen einzelne Geistliche mündeten. (siehe Kapitel: ein Mann Gottes, P. Federico). Andere wurden ermordet, wie Oscar Romero 1980, Erzbischof von El Salvador. Wieder andere schlossen sich der kolumbianischen Guerillaorganisation ELN (nationale Befreiungsfront) an, wie der kolumbianische Padre Camilo Torres oder die spanischen Priester Domingo Laín und Manuel Pérez.

Die Befreiung ist ein durchgehendes Thema der Bibel. Gerade hier kommt der Exodustradition im Alten Testament eine Schlüsselrolle zu: hier erscheint der Gott Israels als der, “der das Elend seines Volkes sieht und die Schreie über ihre Bedränger hört”. Exodus 3.7 (Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten).

Dies wird im Neuen Testament ebenfalls gleich zu Anfang bekräftigt, wo María als Lobpreis für die ihr zugesagte Geburt des Messias singt: “Er stösst die Mächtigen vom Throne und erhebt die Niedrigen. Die Hungernden füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen”. Lukas 1.54

Darum wird die Erlösung als Zentralbegriff der biblischen Botschaft nicht, wie in der traditionellen Theologie, ausschliesslich spirituell verstanden, sondern als eine sozialpolitische und ökonomische Veränderung. Somit ist das Heil, das die Bibel verkündet, nicht mehr nur auf das Jenseits bezogen, sondern auch auf die gesellschaftliche Realität im Diesseits.

Als ich Mitte 1970 in Bogotá ankam und mit meinem Sprachstudium begann, traf ich dauernd auf Gruppen von Bischöfen, Priestern, Schwestern und Laien, die diese neue theologische Ausrichtung diskutierten. Zudem nahm ich anfangs 1971 an einem sechsmonatigen Theologiekurs in Manizales (Kolumbien) über befreiungstheologische Katechese teil. Dies gab mir wichtige Impulse für meine spätere Pastoralarbeit in Leiva (siehe Kapitel: meine 25 Apostel).

Richard mit Bauern in Leiva 1975
“auch Freude und Musik ist befreiend!”, im Landjugendheim Arboleda.

Für mich war und ist es heute immer noch klar, dass die Theologie entweder befreiend ist, oder sie ist schlichtweg keine Theologie. Ich erinnere mich mit Schrecken an die Moraltheologie von Bernhard Häring beim Theologiestudium in Sitten. Eine auf 400 Seiten zusammengefasste Moraltheologie die mich immer an schwere Bürden erinnerte und nicht an eine frohe und befreiende Botschaft im Stil von Jesus Christus. Leider kam diese befreiende Ausrichtung in den 80er und 90-Jahren derart unter Beschuss, dass die bekanntesten Befreiungstheologen mundtot gemacht wurden: dies vor allem unter Johannes Paul II und Benedikt XVI. Ich erinnere mich noch bestens an einen Besuch des Polenpapstes in Nicaragua, wo er auch den dort bekanntesten Befreiungstheologen Ernesto Cardenal traf. Ernesto kniete sich vor dem Papst nieder, dieser gab ihm nicht einmal die Hand sondern erhob den Zeigefinger und drohte dem Priester wie ein erzürnter Vater seinem Kind. Die Szene wurde mehrmals im hiesigen Fernsehen ausgestrahlt.

Doch beim Kolumbienbesuch des jetzigen Papstes Franziskus, (September 2017) den ich mit viel Interesse verfolgte, hatte ich den Eindruck, dass sich wieder einiges in die befreiungstheologische Richtung öffnet. Aber es ist offensichtlich so, dass es noch viele dunkle Kräfte in der Kirche gibt, die den Stil von Franziskus nicht teilen wollen. Auch hier in Kolumbien sprachen ultrakonservative Kräfte vom jetzigen Papst als Verräter.

Auf alle Fälle hat mich diese theologische Ausrichtung in diesen 47 Jahren in Südamerika immer begleitet und ist heute noch die Kraftquelle aus der ich und meine Mitarbeiter in der Stiftung Apoyar schöpfen können.

Zum Abschluss dieses Themas ein Bibelzitat aus dem Jakobusbrief, das wohl keiner Erklärung bedarf:

“Höret, ihr Reichen! Weint und klaged über das Elend, das euch erwartet! Euer Reichtum ist verfault. Eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet, und der Rost wird beweisen, wie ihr an eurem Reichtum gehangen habt: er wird euch wie Feuer verzehren! Schätze habt ihr aufgehäuft kurz vor dem Ende aller Dinge. Ihr habt den Arbeitern, die eure Felder mähten, den Lohn vorenthalten. Das schreit zum Himmel. Und die Klagerufe der Arbeiter sind dem Herrn der Welt zu Ohren gekommen. Ihr habt auf Erden geschwelgt und geprasst und euch an den Schlachttagen gemästet. Ihr habt dem Gerechten sein Recht und sein Leben genommen, und der konnte sich nicht wehren gegen euch!” (Jak. 5,1-6)

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