2.1 Kapitel: Bewusstseinsbildung

Eine der wichtigsten Teile unserer Vorbereitung als Team für die zukünftige Pastoral- und Sozialarbeit waren Kurse und Diskussionsrunden an der Jesuitenuniversität von Bogotá im Jahre 1970/71. In diesen Runden sprach man damals sehr oft von einem brasilianischen Pädagogen: Paulo Freire und seinen Grundzügen der “Pädagogik der Unterdrückten”. Wir entschieden uns, diesem Erziehungsvorschlag mehrere Wochen zu widmen. Professoren aus Brasilien, Kolumbien und Holland leiteten die Runden.

Diese Pädagogik Paulo Freires orientierte weitgehend unsere Arbeit in Leiva, dem Dorf im Süden Kolumbiens, wo wir von 1971 bis 1977 tätig waren. Aber diese Philosophie orientierte auch unser Bemühen in der später gegründeten Stiftung Apoyar. Aus diesem Grunde möchte ich ein bisschen näher darauf eingehen.

“die Erziehung verändert die Welt nicht; verändert aber die Menschen, welche die Welt verändern!”

Nach Freire ist die wahre Berufung des Menschen die Humanisierung. Da es Unterdrückung gibt, sind Unterdrücker und Unterdrückte enthumanisiert und von sich selbst entfremdet. Um die Unterdrückten zu befreien, entwickelte Freire seine Pädagogik und gibt zu, dass sie eine politische Dimension hat. “Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung”.

Dieses kritische Bewusstsein entwickelt sich nach Freire in den folgenden 3 Stufen:

  • Naives Bewusstsein: der Mensch sieht seine Situation als unveränderlich an. In dieser Bewusstseinsstufe ist der Mensch der Meinung, dass die Welt, so wie sie ist, von Gott gewollt ist. Dies wurde den Indianern in Mittel- und Südamerika während Jahrhunderten von den spanischen Missionaren so gepredigt (mit nur wenigen Ausnahmen.)
  •  Transitives Bewusstsein: durch den Dialog nehmen die Menschen ihre Lebenswelt und die damit verbundenen Widersprüche und ungerechten Situationen wahr.
  • Kritisches Bewusstsein: der Mensch nimmt die Missstände der Welt nicht nur wahr, er kann sie auch kritisch reflektieren. Er ist somit in der Lage, Lösungen für seine Probleme zu suchen und diese auch zu verwirklichen.

Das Durchlaufen dieser verschiedenen Stadien nennt Freire “conscientización”, Bewusstseinsbildungsprozess. Freire definiert damit den Lehrgang, der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Massnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen.
Aus diesem Grunde formuliert er die dialogische “problemformulierende Bildung” als Gegenpol zur vorherrschenden “Bankiersmethode”. Das Bankierkonzept geht davon aus, dass der Lehrer über alles Wissen verfügt, die Schüler dagegen kein Wissen haben und dass der Lehrer bei jedem Schüler quasi wie in einem Bankdepot Wissen anhäuft. Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, den Schüler mit Wissen zu füllen, die Lebenswelt des Schülers, dessen Gedanken, Auffassungen und Bedürfnisse bleiben unberücksichtigt.

Wir als “Lehrerteam” wendeten immer diese neue, problemformulierende Weise an. Ob mit Kindern, Jugendlichen, Frauen oder Männern und Familien: immer setzen wir uns zum Dialog zusammen. Dies war und ist nicht immer leicht, die meisten armen Südamerikaner sind es nicht gewöhnt zu sprechen, zu formulieren. Sie haben bisher fast immer geschwiegen und zugehört, weil die sprechenden Personen mehr Kenntnisse haben! Und doch ist es nicht so; wir erlebten wahre Wunder. Plötzlich kamen die immer in der Runde sitzenden Personen aus sich heraus und formulierten ihre Gedanken und Bedürfnisse. Und nach fast 50 Jahren Erfahrung in dieser Arbeit muss ich sagen: diese Arbeitsmethode hat uns immer grosse Erfolge gebracht. Wir haben uns nie einer Gemeinschaft genähert mit bereits vorformulierten Projekten, wie ich es oft mit ausländischem Personal erfuhr: Damen und Herren aus Europa oder USA kamen in die Armenviertel und wussten bereits, was zu tun und zu verbessern war. Sie nahmen sich nicht die Zeit mit den involvierten Menschen zu reden. Die Erfolge solcher Projektarbeiten waren dann auch relativ arm.

Ausgehend von diesen Erfahrungen wendeten wir immer die für uns wichtigen 3 Säulen an: Teilnahme, Solidarität und Autonomie. (wesentliche Bestandteile der Arbeitsphilosophie der Stiftung Apoyar bis heute!)

Jede neue Projektarbeit wird immer im Dialog definiert. Daran nehmen die Leute in den Armenvierteln oder auf dem Land und die Mitarbeiter der Stiftung Apoyar teil. Die so erarbeiteten Verbesserungsideen werden in neuen Sozialprojekten formuliert, die anschliessend interessierten, staatlichen oder privaten, Organisationen zur Teilfinanzierung vorgelegt werden.

Eine zweite, äusserst wichtige, Säule ist die Solidarität. Vor allem im kolumbianischen Umfeld, wo wir in den letzten 30 Jahren immer mit vom Krieg vertriebenen Familien arbeiteten. Hier kamen Menschen zusammen, die von allen Ecken des riesigen Landes fliehen mussten: von der Karibik, vom Pazifik, vom Amazonasgebiet und auch vom Landesinneren. Meistens kamen sie in die Hauptstadt Bogotá oder andere Städte, wo sie sich ein bisschen sicherer fühlten. Neben der fürchterlichen Armut erschwerten soziale und, vor allem, kulturelle Verschiedenheiten die Gemeinschaftsarbeit. Der Erfolg der Arbeit hatte immer mit der erworbenen Solidarität zu tun. Nur wenn es ihnen, und auch uns, gelang, solidarische Beziehungen aufzubauen, hatten wir Erfolg. So benötigten wir immer auch eine Reihe von gut ausgebildeten Psychologen, die wesentlich mithalfen, neue Gemeinschaftsgruppen zu erstellen.

Und schlussendlich die Autonomie der Projekte. Jede Projektarbeit beinhaltet Gemeinschaftsorganisation, denn diese Aufgabe soll nicht nach einer gewissen Projektzeit enden. Ich möchte dies an 2 Beispielen aufzeigen:

  • In einem sehr armen und vernachlässigten Viertel in Bogotá von vertriebenen Familien wurden wir gebeten Kleinkinder zu betreuen, da sich bisher niemand um diese Kinder kümmerte. Nach den oben beschriebenen Arbeitssitzungen mit den Eltern begannen wir mit der Kinderbetreuung. Während den normalen 3 Jahren Dauer eines solchen Projektes wurde eine Elternorganisation aufgebaut, die, nach Ablauf der Projektdauer, die Leitung des Kinderhortes übernehmen sollten. Und dies ist uns in rund 90% der Fälle gelungen.
  • Die Landjugendheime (LJH) im Dept. Caldas. Mit der gleichen Methode konnten wir 5 solcher LJH aufbauen und den Bauernfamilien übergeben, und dies vor 20-25 Jahren. Die Bauer/innen überwachen und leiten die Heime und die Kinder können ihre Mittelschulstudien im grösseren Dorf abschliessen, denn dort wo sie leben gibt es diese nicht. Bisher hatten so rund 6500 Kinder die Möglichkeit zum Studium.

Es versteht sich, dass wir auch nach Übergabe eines Projektes weiterhin mit der Leitung in Kontakt bleiben. Sollte es zu Schwierigkeiten kommen, was ab und zu der Fall ist, stehen wir als Ratgeber zur Seite.

Der bewusstseinsbildende Prozess, von dem ich anfänglich sprach, hat sich bewährt!

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