1. Kapitel: Ein erster Schock: meine Feuertaufe!

Anfangs 1971 kamen wir als Team nach Leiva. Wie schon gesagt, ein Dorf unendlich abseits der Welt, ohne Strasse , ohne Licht, ohne Trinkwasser: es fehlte an allem.

Für uns war bald einmal klar, dass die fehlende Strasse ein riesiges Hindernis für alle ist: Verkauf der Agrarprodukte, Ankauf und Heranschaffung der Lebensmittel, Krankheitsfälle, … etc. Was auf dem Maultier herangeschleppt werden muss, verteuert sich enorm. So entschieden wir uns für den normalen und respektvollen Weg: wir reisten mit den Kleinbauern in Gruppen in die Dept.s Hauptstadt Pasto um bei den zuständigen Behörden vorzusprechen. Doch dies war schneller gesagt als getan: die Reise hin dauerte 12 Stunden, mit dem Pferd und auf Naturstrassen. Ich selbst reiste mit kleinen Gruppen in drei Jahren 6 Mal nach Pasto: wir erreichten nichts, nur Versprechen und oft ein mitleidiges Lächeln. Bei einem solchen Besuch im Februar 1974 empfing uns der damalige Gouverneur. Nach einer Wartezeit von mehr als 2 Stunden wurden wir schliesslich in sein elegantes Büro gebeten. Dort brachten wir unsere Bitte vor: die Fertigstellung der Strasse nach Leiva (es fehlten nur noch etwa 10 Kilometer).  Schlussendlich versicherte uns dieser Depts.-Chef: im Monat Oktober habt ihr in Leiva die Strasse. Mir stiegen derart grosse Zweifel auf, dass ich ihn fragte, auf welches Jahr sich sein Versprechen beziehe; mir war Oktober nicht genug.  Es war ein Wunder, das er mich nicht aus seinem Büro vertrieb! Aber ich hatte Recht: im Oktober des gleichen Jahres hatten wir noch keine Strasse!

Gouverneurin des Depts. auf Besuch in Leiva mit Richard und Bauern, “viel Eleganz, weiter nichts!”

Doch dann trat plötzlich das ein, was das Mass voll machte. Es war an einem grauen Regentag  im Jahr 1975. Wir  wurden gerufen, weil eine Frau am Sterben lag. Was ich dann sah übersteigt alle Erzählkunst: an zwei dicken Bambusstangen hängend, inmitten von dort befestigten Leintüchern und Decken, traf ich eine junge Mutter. Sie war völlig erschöpft und lag in ihrem Blut und Erbrochenem. Für sie war die Zeit gekommen ihr Kind auf die Welt zu bringen, doch eine komplizierte Stellung des Kleinen ermöglichte keine normale Geburt. Ihr Mann und drei Freunde trugen sie von einem 5 Stunden entfernten Weiler ins Dorf; vielleicht könnte unsere Krankenschwester helfen. Doch dies war nicht möglich. Sie wurde zumindest gereinigt und erfrischt, dann ging der beschwehrliche Weg weiter. Um den nächstliegenden Spital zu erreichen sollte diese junge Mutter noch mindestens 6 Stunden aushalten.  Nach drei Stunden wurden wir informiert, dass die Frau mit ihrem Kinde nicht überlebte.

Meine Reaktion: eine ungeheure Wut auf diese ungerechte Situation und besonders auf die korrupten Politiker, denen das Leben der Armen egal ist. Ich konnte es nicht fassen, dass diese unschuldigen Wesen sterben mussten. Warum konnte dieses noch ungeborene Kind nicht das Licht der Welt erblicken? Wieso musste eine 20-jährige Frau sterben, nur weil es keine Strasse , um rasch ins Spital zu kommen? Aber es kam noch schlimmer: wochenlang sah ich immer wieder dieses Bild des Elends und der Hoffnungslosigkeit. Oft erwachte ich nachts und sah erneut die groteske Szene der verblutenden  Frau. Bis heute hat mich dieses menschenunwürdige Bild verfolgt.

Und da verstand ich plötzlich jene junge Menschen, die sich für den bewaffneten Widerstand entschieden. Eine Antwort auf diese unmenschliche Interessenlosigkeit der meisten Politiker kann auch der Griff zu den Waffen sein. “Wer nicht hören will muss fühlen”, so hat man uns schliesslich gelehrt.In diesen Jahren (1970-1980) gingen auch eine Reihe von katholischen Priestern zur bewaffneten Guerrilla. Erwähnen möchte ich den kolumbianischen Padre Camilo Torres, ein Bogotaner aus sehr reichen Verhältnissen. Er studierte Theologie in Bogotá und doktorierte anschliessend in Löwen (Belgien) in Soziologie. Nach seiner Rückkehr wurde er Kaplan der grossen Nationaluniversität (wo übrigens später meine Tochter Claudia Cristina Medizin studierte) und arbeitete entschlossen für Gerechtigkeit in Kolumbien.Wenn es darum ging Ausbeutung und unmenschliches Verhalten anzukreiden nahm er kein Blatt vor den Mund. Aber bald kam er in Konflikt mit dem Erzbischof von Bogotá weil sich mächtige Politiker bei ihm  beklagten und er wurde seines Amtes enthoben. Kurz darauf schloss er sich der Guerrillagruppe ELN an (nationale Befreiungsfront: die Gruppe, die mich später entführte!!) und wurde dann nach einem Jahr in einem Gefecht von dem Heer erschossen. Natürlich kannte er sich besser aus in Soziologie als mit Feuerwaffen!

Aber auch spanische Priester gingen diesen Weg, vielleicht hatten sie auch ähnliche Erlebnisse wie ich in Leiva. Ich weiss von Domingo Laín und Manuel Pérez, der jahrelange Chef des ELN. Für sie gab eine keine andere Wahl, nur den bewaffneten Widerstand.

Für mich kam diese Option nie in Frage. Schon von meinem Glauben her bin ich überzeugt, dass Gewalt nur zu mehr Gewalt führt. Blutvergiessen kann nicht der Weg  zur Veränderung sozialer Strukturen sein. Zudem sind die Opfer dieses Krieges immer die Armen; die Reichen senden ihre Söhne und Töchter nicht aufs  Schlachtfeld. Dies habe ich noch und noch in diesen letzten 47 Jahren gesehen. Von den rund 250’000 Toten des kolumbianischen Konfliktes (in 53 Jahren) kamen rund 95% aus den ärmsten Schichten, sei es seitens der Guerrilla oder des ordentlichen Heeres.

Aber ich war immer überzeugt, dass eine bewusstseinsbildende Arbeit (nach dem Vorbild des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire) eine grosse Einschlagskraft hat. Nur wenn sich der arme und oft ausgebeutete Mensch bewusst ist, dass er Würde, Rechte aber auch Pflichten hat, beginnt er sich zu wehren. Wir haben mit dieser Arbeitsmethode oft kleine Wunder erlebt: nach diesem bewusstseinsbildenden Prozess beginnen viele Menschen sich zu organisieren und ihre Rechte zu verlangen. Dadurch konnten wir sehr oft die von der spanischen Kolonialkirche gepredigte Annahme der Armut, weil gottgewollt (wie sie ihnen gepredigt wurde), überwinden und die Menschen zu neuen und gerechteren Dimensionen führen und so unterstützen (apoyar).

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