Einführung – Helfen macht froh!!

Richard Aufdereggen, 1968

Wenn ich jetzt, 2017, nach 76 Altersjahren, auf mein  Leben zurückblicke, begleiten mich gute Gefühle: es hat sich gelohnt! Ich habe den richtigen Weg eingeschlagen. In den nun 47 Jahren in Südamerika konnten wir – ich und meine Mitarbeiter, vor allem mit meiner Frau Ana Dilia – Tausende von Kindern, Jugendlichen, Frauen, Bauern  und ihren Familien ein Stück Weges begleiten und unterstützen (apoyar),um ihr Leben zu verbessern. (Wir haben vor kurzem versucht eine Liste der an unseren Projekten beteiligten Menschen zusammenzustellen, wir kamen auf etwas mehr als 250’000 in 30 Jahren!!) Aber auch unser Leben hat sich verbessert!  Immer wenn ich ein von uns durchgeführtes Entwicklungsprojekt besuche und frohe und lachende Kinder antreffe, wenn ich mit Bauern zusammenkomme, die mir stolz ihre verbesserten, ohne Chemie produzierten, Produkte zeigen, ist es für mich ein weiterer Beweis: es hat sich gelohnt!

Wenn ich einer, vom kolumbianischen Konflikt, vertriebenen Familie nach Jahren von Armut und Entbehrung, schlussendlich den Schlüssel zu einem neuen Eigenheim übergeben kann, ist dies fast ein sakraler Moment. Zusammen – Gemeindeverwaltungen, Familien und unsere Stiftung Apoyar – konnten wir in drei grossen Städten Kolumbiens rund 450 Familien in den letzten 25 Jahren diesen Eigentumstitel übergeben. Welche Freude für Menschen, die jahrelang in miserablen Unterständen überleben mussten!

Dabei hätte es ganz anders sein können. Nachdem ich als junger, 16-jähriger, Bursche aus Obergesteln VS mich entschied, im Kollegium in Brig, das Handelsdiplom bzw. die Handelsmatura  zu machen, hatte ich viele Wege in die Zukunft offen. Da war z.B. die Handelshochschule  in St. Gallen. Nach einem Wirtschaftsstudium dort wäre mir der Weg in die weltbekannte Schweizer Bank sicher offen gestanden. Die finanziellen Vorteile einer solchen Karriere lagen auf der Hand, vor allem in den 60-und 70-ziger Jahren. Unsere 50 Jahre Handelsmaturafeier 2013 bewies dies: einige meiner Matura-Kollegen gingen diesen Weg  und sie konnten Riesenerfolge feiern, zumindest finanzielle. Mit der Erziehung seitens meiner Mutter Bertha  und meines Vaters Julius  habe ich keinen Zweifel, dass ich mich auch in diesem Umfeld mit Erfolg hätte behaupten können.

Diese Hände von Mutter Bertha und Vater Julius zeigten mir – uns – den Weg ins Leben

Doch mich begleiteten immer andere Sorgen. Schon im Kollegium trafen wir uns in  kleinen Gruppen und diskutierten über die miessliche Situation in der Welt. Während einige wenige zuviel besassen, leideten zu viele an extremer Armut. Die Ungerechtigkeit nagte an mir schon damals wie ein Wurm, der mich nicht mehr los liess. Immer mehr wurde mir bewusst, dass ich nicht einfach vom grossen, finanziellen,  eidgenössischen  Kuchen essen  sollte, sondern mein Wissen und meine Anstrengungen für eine  gerechtere Welt einsetzen sollte.

Zugleich sinnte ich auch über die Möglichkeiten, die ich hatte, um diesen Weg zu gehen. Im Vordergrund stand dabei die katholische Kirche, in aller Welt präsent und auch engagiert mit der damaligen neuen Welle des II Vatikanischen Konzils und der neuen  Befreiungstheologie (siehe dieses Kapitel). Zudem war ich schon damals beeindruckt von der christlichen Lehre der Gleichheit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.

Noch während meines Theologiestudiums im Priesterseminar in Sitten, VS, schaute ich mich ein bisschen um. Eine katholische Institution fiel mir gleich auf: die Immenseer Missionare. Anschliessende Gespräche mit dem damaligen Generaloberen Josef Amstutz und dem Generalsekretär Crottogini bestätigten mich enorm. Es ging ihnen nicht nur um  Glaubensverkündigung, wie es die spanischen Missionare während Jahrhunderten in Südamerika taten; die Immenseer Richtung war eine ganzheitliche Antwort auf die Notwendigkeiten des Menschen, vor allem die der Dritten Welt. Die Mission sollte den ganzen Menschen umfassen: sowohl sein geistliches wie menschliches Wohl. Und dies entsprach auch meiner Sicht dieser grossartigen Aufgabe.

So bat ich gleich nach der Priesterweihe meinen Bischof Nestor Adam, mich der Gruppe Immensee anzuschliessen, mindestens auf Zeit. Bald darauf (1969) schloss ich mit den Immenseern einen Vertrag für 3 Jahre; der erste Missionar auf Zeit!  Nach einer gründlichen Vorbereitung meinerseits  in der Schweiz und Deutschland (München) wurden wir schlussendlich zu einem interdisziplinären Team zusammengeschlossen: eine Krankenschwester (Rös Würms, die vorher in Haití gearbeitet und eine riesengrosse Erfahrung sammeln konnte), eine Sozialarbeiterin (Margrit Meier, die in Brasilien tätig war), ein Agronom (Mathias Sticher) und ich als Theologe. Ich kam im Juni 1970 nach Kolumbien, meine Teamkollegen waren bereits hier.

Nun bereiteten  wir uns auf die bevorstehende Aufgabe vor: ein erster und wichtiger Schritt war die Gruppenintegration. Mit Hilfe von Spezialisten versuchten wir einander zu kennen, zu schätzen und eine gemeinsame Arbeitsformel zu finden. Das war nicht leicht, hatten doch die beiden Damen bereits jahrelange Südamerikaerfahrung, uns Männern ging dies ab. Doch die Bereitschaft Neues zu lernen, erleichterte die Aufgabe.

Andrerseits suchten wir gemeinsame Arbeitsformeln, vor allem pädagogische und  soziale. In pädagogischen Aspekten liessen wir uns leiten von den Vorschlägen des brasilianischen Erziehers Paulo Freire (siehe Kapitel darüber!).  Was uns alle auch leitete war ein tiefer christlicher Glaube. Und hier wiederum nahmen die Ideen der damals in Südamerika überall  präsenten Befreiungstheologie einen wichtigen Platz ein.

Nach dieser gründlichen Vorbereitung bat man uns, im kleinen Dörfchen Leiva (im Dept. Nariño, angrenzend an Ekuador) die Arbeit aufzunehmen. Es gab damals kaum ein anderes Dorf in Kolumbien, dass derart abseits von der Welt sein Dasein fristete: nur die Reise ins Dorf erforderte von der Strasse einen 6-stündigen Ritt und das Überqueren eines gewaltigen Flusses, (Patía)  der in den Pazifik mündet.

Leiva, Nariño

Abgesehen vom Fehlen der Strasse gab es in Leiva kein elektrisches Licht, keine Trinkwasserversorgung, keine medizinische Betreuung und das Erziehungsangebot war mehr als arm. Damals zählte das Dorf rund 12´000 Einwohner, verteilt auf den Dorfkern und rund 35 Weiler. Bis in den letzten Weiler benötigte ich 2 volle Reittage auf einem Maultier, weil Pferde ohnehin in den reissenden Bächen zu Tode stürzen konnten. Wo sollten wir in einer solchen Situation beginnen? Die Antwort war nicht leicht zu finden. Doch nach einer ersten Kontaktnahme mit den Leuten, einem ersten Erstellen von Inventaren und unter Annahme von bisher gemachten Erfahrungen, entschieden wir uns zu folgenden Schritten: jeder sollte auf seinem Gebiet Leute ausbilden, die das angeeignete Wissen daraufhin weitergeben konnten. Bei mir ging es um Katecheten (siehe Kapitel meine 25 Apostel), bei der Krankenschwester um  junge Gehilfinnen, beim Agronomen um interessierte Bauern etc.

In den folgenden Seiten dieses Blogs möchte ich nun auf diese und folgende Sozialarbeiten hinweisen. Mit ganz kleinen Unterbrechungen konnte ich dies während rund 45 Jahren durchführen, einerseits in Kolumbien aber als Projektleiter auch in vielen anderen Ländern Zentral- und Südamerikas. Wenn ich heute zurückblicke muss ich trotz allem feststellen, dass meine Anstrengungen klein geblieben sind, vielleicht ein Tropfen im grossen Meer. Aber ich bin zum gleichen Schluss gekommen wie Mutter Teresa von Kalkutta: “es mag ein Tropfen im Meer sein, doch wenn er nicht dort wäre , würde er fehlen”!

Aber, wie ich anfäglich sagte, diese meine Lebensaufgabe, hat mir unendlich viel Freude bereitet, obwohl nicht immer alles eitel Sonnenschein war.

Darum möchte ich nun auch  Leute einladen einen solchen Lebensweg einzuschlagen, vor allem junge Menschen. Dies kann auch ein Einsatz von Monaten oder wenigen Jahren sein. Ich habe es in diesen Jahren oftmals erlebt, dass junge Schweizer nach einem kurzen Aufenthalt hier, in einem Armenviertel oder bei südamerikanischen Kleinbauern, mit einem erneuerten Weltbild zurück in die Schweiz reisen.

Bogotá, im November 2017

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