3.1 Kapitel: Ein Mann Gottes

Kurz nach meiner Ankunft in Kolumbien 1970 kam ich zur klaren Einsicht, dass diese meine Südamerikamission nicht Monate oder 3 Jahre dauern, sondern einen grossen Teil meines künftigen Lebens einnehmen würde. Aus diesem Grund fragte ich in Bogotá andauernd nach nachahmbaren Projekten, nach Personen oder Gruppen, die sich in besonderer Weise den Armen widmeten. So lernte ich das halbe Land kennen: von der Pazifik- bis zur Karibikküste, fast alle grösseren Städte des Landes und eine Reihe von landwirtschaftlichen Projekten. Dabei reiste ich nie im Flugzeug; im Bus und Taxi bekam ich viel mehr zu sehen und konnte unzählige, spannende Gespräche führen und viele interessante Menschen kennen lernen.

Was mich besonders interessierte war die Pastoralarbeit der katholischen Kirche, vor allem wegen der Befreiungstheologie , von der ich damals, und auch heute, voll überzeugt war und bin.
So wurde ich auf einen Priester in der Millionenstadt Medellín aufmerksam gemacht: Padre Federico Carrasquilla. Er war damals Pfarrer in einem der ärmsten und gewalttätigsten Viertel. Er war bekannt wegen seiner äusserst einfachen evangelischen Lebensweise und seinem entschiedenen Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in diesem Gebiet Medellíns.

Nach etwas Herumfragen erhielt ich Telefon und Adresse dieses Priesters und nahm mit ihm Kontakt auf. Es wunderte mich ein bisschen, dass er gleich einverstanden war, mich einige Tage bei sich aufzunehmen und es mir erlaubte, Einblick in seine Arbeit zu gewähren. Typisch kolumbianische Gastfreundschaft!!

Damals dauerte die Reise im Bus von Bogotá nach Medellín etwa 12 Stunden. Als ich im Busterminal in Medellín den Taxifahrer bat, mich ins Viertel Las Delicias zu bringen traute sich dieser seiner Augen nicht. Es dürfe doch nicht wahr sein, dass ich, ein Ausländer – “gringo” – in diesen Teil der Stadt wolle. Doch ich wollte und musste ihm dann noch einiges mehr bezahlen, denn selbst Taxifahrer wollten nicht unbedingt in diese Hölle. Und so kam ich mit gemischten Gefühlen, ein bisschen Angst und doch gespannt, auf das Treffen mit P. Carrasquilla in seine Pfarrei. Aber dies alles löste sich in Freude auf, nachdem ich auf eine einzigartige, in Medellín übliche, Herzlichkeit empfangen wurde.

Ich blieb gleich 2 Wochen und musste lernen, dass man in Antioquia (Dept. mit Hauptstadt Medellín) zu jeder Tages- und auch Nachtzeit Arepa isst – eine Art Maisfladen, speziell beliebt in diesem Landesteil. Anfänglich fehlte mir doch das Walliser Roggenbrot, doch es blieb mir keine andere Wahl. Heute bin ich ein begeisterter Arepa-Esser, da auch meine Frau aus diesem Landesteil kommt und sie mich überzeugen konnte.

P. Federico Carrasquilla

Aber nun zurück zu Federico: ein grossartiger Mensch: liebenswürdig, gesprächsfreudig, tief gläubig und äusserst beliebt in seiner Pfarrei. Aber auch fest überzeugt, dass nur ein gerechtes System dem Evangelium entspreche. Und so handelte er denn auch. In Las Delicias – “die Wonne” – gab es vom Guten nur wenig, dafür aber viel vom Bösen.

Das Erziehungsangebot war äusserst beschränkt und auf einem sehr tiefen Niveau. Zudem konnten viele Kinder nicht in die Schule. Die Eltern waren so arm, dass sie das Schulmaterial nicht kaufen konnten.

Die meisten Jugendlichen in Las Delicias bekamen somit keine oder nur eine sehr schlechte Ausbildung. Aus diesem Grund war ihnen der Arbeitsmarkt in Medellín nicht zugänglich. Dies wiederum führte dazu, dass viele sich bald auf der Seite des Verbrechens befanden: Überfälle, Raub, Drogenhandel und sogar Totschlag. Der später in Medellín lebende und weltbekannte Drogenboss Pablo Escobar hatte es leicht, in diesen Vierteln seine Mörder zu rekrutieren.

Auch die Gesundheitsversorgung war miserabel: kranke Menschen, aus Las Delicias, hatten kaum Zugang zur medizinischen Versorgung und mussten meist mit Naturheilern Vorlieb nehmen.

So setzten sich die Pfarrkinder unseres P. Federico aus einer aus allen Teilen des Departementes Antioquia zusammengewürfelten Menschengruppe zusammen, deren Überleben in Medellín kein Zuckerschlecken war. Als Pfarrer war er sich dieser Situation voll bewusst und hatte sich von Anfang an entschieden, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen zu kämpfen. Er war auch tief geprägt von der Befreiungstheologie und lehnte mit Vehemenz die von den spanischen Kolonialtheologen den Armen gegenüber gepredigte Vertröstung aufs Jenseits ab.

Gerechtigkeit soll nicht in die Ewigkeit vertröstet werden; sie soll hier und jetzt gelebt werden können.

Dies hiess aber keineswegs, dass Federico nicht aus einem tiefen Glauben lebte und Kräfte sammelte um diese Lage zu verbessern. In seinen Predigten suchte er die Gläubigen zu überzeugen, dass sie zusammen, und mit der Gnade Gottes, ein gerechteres Leben suchen müssen.

Aus diesen Gründen half er, Kommissionen der Bewohner zu organisieren und begleitete diese immer wieder zu den zuständigen Behörden: zum Erziehungssekretariat, zu den Verantwortlichen des Gesundheitswesens, zu den Polizeibehörden etc. in Medellín. Anfänglich wurden ihm und seinen Leuten die Türen geöffnet, man liess sie sprechen und versprach Verbesserung. Aber die Zeit – Jahre – verging und es erreignete sich nichts. Für die Politiker an der Macht war die Situation der Leute in Las Delicias nicht der Rede Wert. Aber Federico liess nicht los und immer wieder sprach er in den Verwaltungsgebäuden vor, nie allein, immer mit Gruppen aus dem Viertel.

Und so wurde er langsam zu einem Störfaktor. Man begann den Pfarrer von Las Delicias zu hassen und nannte ihn einen Kommunisten. Und nicht genug damit, man suchte Audienzen mit dem damaligen Erzbischof von Medellín: Mons. Alfonso López Trujillo. Immer wieder wurde Federico als der linke Pfarrer, der Kommunist und Ruhestörer gebrandmarkt. Schritt für Schritt liess sich Monseñor López überzeugen, dass Pfarrer Federico nicht der gefügige Hirte seiner Schäfchen und gehorsame Untertane der bischöflichen Gewalt sei. Etwas müsste nun geschehen! Mehrere Unterredungen im erzbischöflichen Palast brachte die beiden Gottesmänner auch nicht näher. Schlussendlich nahm der Kirchenfürst eine drastische Entscheidung: er enthob Federico seines Amtes als Pfarrer und ernannte ihn auch nicht in einem anderen Teil der Diozese. Aber P. Federico blieb in Las Delicias und kämpfte weiter um ein menschenwürdigeres Leben seiner Freunde.

Und nun noch ein Wort zu Mons. López Trujillo. Es handelte sich zweifelsfrei um einen äusserst intelligenten, aber ebenso konservativen, kolumbianischen Theologen. Seine Karriere in der Kirche ging immer aufwärts. So war er Ende 1960 schon Sekretär der südamerikanischen Bischofskonferenz, dann wurde er zum Bischof geweiht und war einige Jahre auch Präsident der Bischofskonferenz. Dann erhielt er die Leitung der Diözese Medellín, einer der wichtigsten Kolumbiens überhaupt, denn das Dept. Antioquia war immer schon ein Ort mit vielen Priestern und Nonnen. Mons. López Trujillo lebte als Erzbischof in einem riesigen Palast im Herzen von Medellín.

Aber er zeichnete sich vor allem aus als eiserner Vertreter der ultrakonservativen Theologie. Die ganze Diskussion um die Befreiungstheologie war für ihn ein rotes Tuch, sie konnte in der katholischen Kirche keinen Platz haben. Dies hatte er mit vielen südamerikanischen Bischöfen so durchgeboxt. Um so weniger wollte er in seiner Diozese Priester, wie den P. Federico, wirken lassen. Federico musste seines Amtes enthoben werden.

Während nun mein Gastgeber Federico Carrasquilla keine Eucharistie mehr mit seinen Gläubigen feiern konnte, wurde López Trujillo kurz darauf von Papst Johannes Paul II zum Kardinal ernannt. Damit nicht genug, bat ihn Johannes Paul bald darauf, nach Rom zu zügeln und übergab ihm das päpstliche Sekretariat für das Familienwesen weltweit, wo er bis zu seinem Tode wirkte.

Ich hatte weiterhin Kontakt mit Federico und rund 10 Jahre später luden wir ihn öfters nach Bogotá ein, damit er dem Team von der Stiftung Apoyar über seinen Glauben und seine Arbeit berichtete. Seine engagierte Art hat wesentlich dazu beigetragen, dass unsere Arbeitsphilosophie mit den Ärmsten immer klarer und auch vom christlichen Glauben geleitet wurde.
Schlussendlich möchte ich ehrlich sagen, dass ich weder vor Federico, noch nach ihm, einen Menschen kannte, der auf derart konsequente Weise die Nachfolge Christi predigte und lebte.

Aber eben, Menschen wie er, haben in diesem ultrakonservativen Gefüge keinen Platz: wie Jesus müssen sie verschwinden und am Kreuz sterben!!

3.2 Kapitel: Meine 25 Apostel

Wenn man in eine Pfarrei mit 12’000 Einwohnern, verteilt auf Dorfkern und 35 Weilern, kommt, fragt man sich, wo man überhaupt beginnen soll. Mir war gleich klar, dass ich nicht einfach im Pfarrhaus sitzen kann und warten soll auf die Gläubigen, die vielleicht einen kirchlichen Dienst erbitten. In unserem Team war ich vor allem verantwortlich für die Verkündigung des Wortes Gottes. Und die gewaltige Ausdehnung der Pfarrei benötigte eine neue Art der Glaubensverbreitung. Ausgehend von einem katechetischen und befreiungstheologischen Seminars vor meinem Einsatz, beschloss ich, wenn möglich, in jedem Weiler einen Katecheten –“Apostel” – ausbilden und einsetzen zu können.

Gesagt, getan! Nach einigen Monaten Besuchen, Gesprächen und Abwägungen hatte ich eine erste Gruppe von 35 AnwärterInnen. Fast alle Weiler waren vertreten. Und nun begann die Ausbildung, die alle wichtigen Themen der christlichen Botschaft beinhalteten: Gott und die Welt, die wichtigsten Lehren des Alten Testamentes (die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, der Weg durch die Wüste, das gelobte Land…), die Propheten, die Geburt und die Lehre Jesu, des Christus. Die neu entstandene Kirche. Ihre Rolle in dieser Welt, ihre Lehre etc..

Wir trafen uns alle 14 Tage im Pfarrhaus und es dauerte 18 Monate bis ich einigermassen den Eindruck hatte, jetzt sind meine “Apostel” einsatzbereit. Von den 35, die den Einführungskurs begannen, blieben noch 25; vor allem junge Frauen und Männer, ledige und verheiratete. Natürlich halfen auch meine Teamkollegen bei dieser Ausbildung kräftig mit. Aber alle hatten verstanden, dass sie eine wichtige Mission auszuführen hatten.
Worin bestand diese? Folgende pastoralen Aufgaben sollten sie in ihren Weilern nun übernehmen (vorher besuchte ich jede Gemeinschaft und stellte den Katecheten vor, immer mit der Bitte, dass die Gläubigen nun in ihm einen Stellvertreter des Pfarrers sehen sollten..):

  • Jeden Sonntag führte der Katechet mit seiner Gemeinschaft einen Wortgottesdienst durch. Anfänglich übergab ich jedem einige Tage vorher die ausgesuchten biblischen Texte mit einer einfachen Erklärung. Nach einigen kleinen Anfangsschwierigkeiten klappte dies ausserordentlich gut.
  •  Eine weitere Aufgabe: sie sollten die Eltern auf die Taufe ihrer Kinder vorbereiten. Bald konnte ich feststellen, dass sie dies besser konnten als ich selber!!
  • So bereiteten sie auch die Kinder auf den Empfang der Ersten Heiligen Kommunion vor.
  • Sogar eine Vorbereitung zur Ehe lag drin. Die meisten hatten hier Erfahrung, ich noch keine!
  • Wichtig war die Durchführung der Vorbereitungen für die grossen Feste: die Weihnachtsnovene – 9 Tage vor dem Weihnachtsfest – ist hier in Südamerika ein wesentlicher Bestandteil des Glaubens. Aber auch die Karwoche ist wichtig!
  • Schlussendlich waren die Katecheten mit der Zeit auch soziale Leader-Figuren. Sie leiteten die Gemeinschaftstreffen, organisierten Arbeiten, die für das Wohl der Leute wichtig waren, wie Verbesserung der Wege, Reparation einer Schule, Verbesserung der Trinkwasserzufuhr etc.
  • Zur selben Zeit ging auch die Weiterbildung fort, nicht alle 14 Tage. Doch wir trafen uns mindestens einmal alle 2 Monate und evaluierten und planten für die kommenden Wochen.

Ich war äusserst zufrieden mit der Einführung und dem Erfolg dieses pastoralen Musters. Während meiner Amtszeit gab es in Leiva keine andere Kirchengruppen, “Sekten”. Scheinbar war, durch unser Muster, die Nachfrage nach Glaubensversorgung gedeckt, die Familien mussten sich nicht nach anderen Gruppen umsehen, wie es heute der Fall ist. (Rund 20% der Gläubigen in Kolumbien gehören heute – 2017 – nicht mehr zur katholischen Kirche!).

in der Katechetenausbildung

Nach 5 Jahren Anwendung dieser pastoralen Arbeit kam schlussendlich der für uns zuständige Bischof nach Leiva. Mit Stolz und einer gewissen Genugtuung stellte ich ihm diese unsere “Apostel”vor. Ich war überzeugt, dass das von uns angewendete Muster auch in anderen, ähnlichen, Pfarreien der Diözese Schule machen könnte. Doch ich hatte mich wieder einmal geirrt. Der Kirchenfürst zeigte kein grosses Interesse für diese Erfahrung, ja er verbot sogar folgendes: die Katecheten dürften ab sofort keine Kommunion an kranke und alte Menschen in ihre Weiler bringen.

Kurze Zeit darauf entschloss ich mich Leiva zu verlassen. Zudem hatte ich kurz vorher meine zukünftige Frau Ana Dilia kennengelernt. Sie fiel mir gleich auf als fröhliche Person auf, aber vor allem auch als Mensch, der meine Ideale teilte: die Sorge um die armen und ausgebeuteten Menschen und der Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft. Sie hatte auch eine spezielle Berufung: die Wertschätzung und Gleichstellung der Frau in der südamerikanischen Gesellschaft, was gerade in Kolumbien von grosser Notwendigkeit war. Nach unserer Heirat arbeitete sie immer mit grosser Überzeugung diesem Ideal nach: jahrelang begleitete sie Frauen auf ihren nicht immer leichten Wegen. (siehe Kapitel über Ana Dilias Einsatz für die Frauen).

So bat ich meine Oberen um die Rückversetzung in den Laienstand und wir heirateten am 24. Juni 1978 in Medellín. Ana Dilia und ich waren uns einig: wir müssen unserer Berufung folgen und uns weiterhin für die Armen und Entrechteten einsetzen. Kurz nach unserer Ankunft in Bogotá wurde ich gebeten die Leitung der schweizerisch-kolumbianischen Vereinigung Paz en la Tierra (Frieden auf Erden) zu übernehmen. Ich konnte diesen Verein während den kommenden 10 Jahren leiten.

Unseren beiden Kinder, Claudia Cristina und Julián, durften in Bogotá in der Schweizer Schule studieren, eine ausgezeichnete Mittelschule. Aber so wie diese Schule qualitativ gut war, waren die geforderten Schulgelder hoch. Plötzlich konnten wir den finanziellen Forderungen nicht mehr nachkommen (obwohl ich als Schweizer nicht den vollen Betrag zu entrichten hatte!) Und so musste ich mich wieder um eine neue Einkommensquelle umsehen. Schweizer Freunde boten mir damals die Direktion der Schweizerisch-kolumbianischen Handelskammer an, was ich gleich annahm, denn die Bezahlung war bedeutend besser.
Doch von dieser Arbeitserfahrung möchte ich in einem neuen Abschnitt berichten.

3.3 Kapitel: In den Favelas von Rio de Janeiro

Während den rund 10 Jahren als Projektleiter der Schweizer NGO Vivamos Mejor begleitete ich viele Entwicklungsprojekte in verschiedenen Ländern von Zentral- und Südamerika. Vivamos Mejor (leben wir besser!) war früher einmal in Brasilien tätig, aber nicht mehr während meiner Amtszeit. So erhielt ich den Auftrag vom Vorstand in Bern, (heute Zürich) mit neuen Sozialprojekten in Brasilien zu beginnen. Keine leichte Aufgabe, da ich Brasilien noch nicht kannte. Schliesslich erhielt ich die Anschrift von einem Schweizer in Rio, Erwin Zimmermann. Er vertrat die internationale Organisation “Moralische Aufrüstung” mit Sitz im Schweizer Städtchen Caux. Mit ihm nahm ich Kontakt auf, gleich war er begeistert von unserem Vorschlag, in einigen Favelas von Río für sehr arme Kinder zu arbeiten.

Da er selber nur wenig Kontakt zu den Favelas hatte, schlug man mir vor, mit Vertretern der katholischen Kirche Kontakt aufzunehmen, was ich denn auch gleich unternahm. Herr Zimmermann verwies mich auf eine Schweizerin, die schon sehr lange in Río lebte und einen Schweizer Bischof aus St. Gallen kannte: Frau Marlise Rostock. Zusammen mit ihr wurden wir schlussendlich von diesem Weihbischof im Bischofspalast in Río empfangen. (leider kenne ich den Namen dieses Bischofes nicht mehr). Ich stellte die Schweizer NGO Vivamos Mejor vor, sprach von den vielen Programmen in den meisten Ländern von Mittel- und Südamerika und schlug vor, dass wir mit der katholischen Kirche zusammen solche Projekte in einer oder mehrerer Favelas durchführen könnten. Es war für mich klar, dass diese Zusammenarbeit einen Einstieg in den Elendsvierteln riesig erleichtert hätte, denn die meisten dieser Viertel waren von kriminellen Banden kontrolliert. Zudem war ich immer noch überzeugt, dass die Kirche doch sicher auch ein grosses Interesse haben könnte, um die Situation dieser Kinder und ihrer Eltern zu verbessern.

Doch ich hatte mich wieder einmal geirrt. Der Kirchenfürst aus St. Gallen liess mich nicht einmal unser gesamtes Programm vorstellen als er gleich seine abweisende Haltung zeigte. Die katholische Kirche sei an der Zusammenarbeit mit keiner NGO interessiert. Sein angeführter Grund: die Familienplanung. Einwände meinerseits beeindruckten ihn nicht, die Morallehre der Kirche sei mit diesen Methoden nicht einverstanden, keine Geburtenkontrolle und Punkt! Er nahm sich nicht einmal die Mühe mich zu fragen, was unsere Haltung zu dieser Angelegenheit sei. Damit war der Besuch abgeschlossen und wir verliessen den Bischofssitz ohne Resultat. Vor kurzer Zeit (2017) habe ich vom Sohn des Herrn Erwin Zimmermann, Werner, erfahren, dass man den Herrn Bischof wieder in die Schweiz “zurückschickte”, wegen seiner übertrieben konservativen Haltung.

Favelas in Rio

Dank der Hilfe von Herrn Erwin Zimmermann und seinen Beziehungen zur “Moralischen Aufrüstung” konnten wir schliesslich eine erste Favela besuchen: Caleme war ihr Name. Der Schweizer stellte uns der Gemeinschaftsorganisation vor und die kleine Gruppe war von unseren Absichten begeistert. Caleme war nicht das allerschlimmste in Río; was ich in den kommenden Jahren zu sehen bekam ist nur schwer beschreibbar: extreme Armut, schlechte Erziehung, unzureichende medizinische Versorgung und, vor allem, eine überall anwesende Gefahr der Banden, die vor allem den Drogenhandel unter Kontrolle hatten. Ich habe dies einige Jahre später selber erlebt: zusammen mit unserem brasilianischen Projektleiter Milicio Ströher besuchten wir auch uns unbekannte Favelas, in der Nachbarschaft von Caleme. Noch am gleichen Tag, abends, wurden wir von einer bekannten Frau informiert, dass wir uns dabei in grosser Gefahr befanden. Da die Bandenführer dieser Favela uns nicht kannten, wurde bereits der Befehl erlassen, dass man uns töten solle, denn es handle sich sicher um 2 “gringos”, die weiss Gott was in diesem Teil Ríos zu suchen hatten. Dank dem Eintreten dieser Frau und ihrer Information, die sie den Verbrechern geben konnte, kann ich diese Zeilen heute noch schreiben.

In relativ kurzer Zeit eröffneten wir den ersten Kinderhort. Ich konnte sehr engagierte, junge Leute anstellen, die für eine gute Arbeit sorgten. Die vielen frohen und gesunden Kinder zu sehen war für mich von grosser Genugtuung.

Doch ich möchte noch auf eine weitere interessante Entdeckung in Río verweisen. In einem Teil dieser Memoiren spreche ich ausführlich von der Befreiungstheologie und den damit entstandenen Basisgruppen der katholischen Kirche. Mit dem Rechtsrutsch in der Kirche, vor allem unter Johannes Paul II, wurden auch diesen Gruppen die Luft entzogen, weil sie sich vermehrt um die soziale Situation der Ärmsten einsetzten. Damit waren die Basisgruppen bald einmal Geschichte.

In Caleme und anderen Favelas von Río, (auch in Teresópolis), wo wir mit den Jahren andere Kinderzentren organisierten, kamen plötzlich junge Leute auf uns zu und baten uns, ihnen die Möglichkeit zu geben, bei unserem Sozialeinsatz zu helfen. Bald einmal stellte sich heraus, dass diese jungen Menschen zu früheren katholischen Basisgruppen gehörten. Man hatte ihnen damals ein weiteres Wirken verwehrt und nach unserer Ankunft sahen sie wieder eine neue, sinnvolle Aufgabe. Mit Begeisterung nahmen sie an unseren Aktivitäten, sowohl mit den Kindern als auch ihren Eltern, teil.