3.3 Kapitel: In den Favelas von Rio de Janeiro

Während den rund 10 Jahren als Projektleiter der Schweizer NGO Vivamos Mejor begleitete ich viele Entwicklungsprojekte in verschiedenen Ländern von Zentral- und Südamerika. Vivamos Mejor (leben wir besser!) war früher einmal in Brasilien tätig, aber nicht mehr während meiner Amtszeit. So erhielt ich den Auftrag vom Vorstand in Bern, (heute Zürich) mit neuen Sozialprojekten in Brasilien zu beginnen. Keine leichte Aufgabe, da ich Brasilien noch nicht kannte. Schliesslich erhielt ich die Anschrift von einem Schweizer in Rio, Erwin Zimmermann. Er vertrat die internationale Organisation “Moralische Aufrüstung” mit Sitz im Schweizer Städtchen Caux. Mit ihm nahm ich Kontakt auf, gleich war er begeistert von unserem Vorschlag, in einigen Favelas von Río für sehr arme Kinder zu arbeiten.

Da er selber nur wenig Kontakt zu den Favelas hatte, schlug man mir vor, mit Vertretern der katholischen Kirche Kontakt aufzunehmen, was ich denn auch gleich unternahm. Herr Zimmermann verwies mich auf eine Schweizerin, die schon sehr lange in Río lebte und einen Schweizer Bischof aus St. Gallen kannte: Frau Marlise Rostock. Zusammen mit ihr wurden wir schlussendlich von diesem Weihbischof im Bischofspalast in Río empfangen. (leider kenne ich den Namen dieses Bischofes nicht mehr). Ich stellte die Schweizer NGO Vivamos Mejor vor, sprach von den vielen Programmen in den meisten Ländern von Mittel- und Südamerika und schlug vor, dass wir mit der katholischen Kirche zusammen solche Projekte in einer oder mehrerer Favelas durchführen könnten. Es war für mich klar, dass diese Zusammenarbeit einen Einstieg in den Elendsvierteln riesig erleichtert hätte, denn die meisten dieser Viertel waren von kriminellen Banden kontrolliert. Zudem war ich immer noch überzeugt, dass die Kirche doch sicher auch ein grosses Interesse haben könnte, um die Situation dieser Kinder und ihrer Eltern zu verbessern.

Doch ich hatte mich wieder einmal geirrt. Der Kirchenfürst aus St. Gallen liess mich nicht einmal unser gesamtes Programm vorstellen als er gleich seine abweisende Haltung zeigte. Die katholische Kirche sei an der Zusammenarbeit mit keiner NGO interessiert. Sein angeführter Grund: die Familienplanung. Einwände meinerseits beeindruckten ihn nicht, die Morallehre der Kirche sei mit diesen Methoden nicht einverstanden, keine Geburtenkontrolle und Punkt! Er nahm sich nicht einmal die Mühe mich zu fragen, was unsere Haltung zu dieser Angelegenheit sei. Damit war der Besuch abgeschlossen und wir verliessen den Bischofssitz ohne Resultat. Vor kurzer Zeit (2017) habe ich vom Sohn des Herrn Erwin Zimmermann, Werner, erfahren, dass man den Herrn Bischof wieder in die Schweiz “zurückschickte”, wegen seiner übertrieben konservativen Haltung.

Favelas in Rio

Dank der Hilfe von Herrn Erwin Zimmermann und seinen Beziehungen zur “Moralischen Aufrüstung” konnten wir schliesslich eine erste Favela besuchen: Caleme war ihr Name. Der Schweizer stellte uns der Gemeinschaftsorganisation vor und die kleine Gruppe war von unseren Absichten begeistert. Caleme war nicht das allerschlimmste in Río; was ich in den kommenden Jahren zu sehen bekam ist nur schwer beschreibbar: extreme Armut, schlechte Erziehung, unzureichende medizinische Versorgung und, vor allem, eine überall anwesende Gefahr der Banden, die vor allem den Drogenhandel unter Kontrolle hatten. Ich habe dies einige Jahre später selber erlebt: zusammen mit unserem brasilianischen Projektleiter Milicio Ströher besuchten wir auch uns unbekannte Favelas, in der Nachbarschaft von Caleme. Noch am gleichen Tag, abends, wurden wir von einer bekannten Frau informiert, dass wir uns dabei in grosser Gefahr befanden. Da die Bandenführer dieser Favela uns nicht kannten, wurde bereits der Befehl erlassen, dass man uns töten solle, denn es handle sich sicher um 2 “gringos”, die weiss Gott was in diesem Teil Ríos zu suchen hatten. Dank dem Eintreten dieser Frau und ihrer Information, die sie den Verbrechern geben konnte, kann ich diese Zeilen heute noch schreiben.

In relativ kurzer Zeit eröffneten wir den ersten Kinderhort. Ich konnte sehr engagierte, junge Leute anstellen, die für eine gute Arbeit sorgten. Die vielen frohen und gesunden Kinder zu sehen war für mich von grosser Genugtuung.

Doch ich möchte noch auf eine weitere interessante Entdeckung in Río verweisen. In einem Teil dieser Memoiren spreche ich ausführlich von der Befreiungstheologie und den damit entstandenen Basisgruppen der katholischen Kirche. Mit dem Rechtsrutsch in der Kirche, vor allem unter Johannes Paul II, wurden auch diesen Gruppen die Luft entzogen, weil sie sich vermehrt um die soziale Situation der Ärmsten einsetzten. Damit waren die Basisgruppen bald einmal Geschichte.

In Caleme und anderen Favelas von Río, (auch in Teresópolis), wo wir mit den Jahren andere Kinderzentren organisierten, kamen plötzlich junge Leute auf uns zu und baten uns, ihnen die Möglichkeit zu geben, bei unserem Sozialeinsatz zu helfen. Bald einmal stellte sich heraus, dass diese jungen Menschen zu früheren katholischen Basisgruppen gehörten. Man hatte ihnen damals ein weiteres Wirken verwehrt und nach unserer Ankunft sahen sie wieder eine neue, sinnvolle Aufgabe. Mit Begeisterung nahmen sie an unseren Aktivitäten, sowohl mit den Kindern als auch ihren Eltern, teil.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.