4. Kapitel: Entführung

3. Mai 1988, Tag des Heiligen Kreuzes. Es war gegen Mittag, als plötzlich ein junger Mann neben mir im Büro der Schweiz.-Kolumbianischen Handelskammer stand, seinen Revolver aus der Handtasche nahm und mir zu verstehen gab, dass dies nun eine Entführung sei. Als der erste Schreck ein bisschen vorüber war, wollte ich trotzdem wissen, was wohl der Grund dieses Vorgehens sein könnte. Mit trockener und zorniger Stimme gab er mir zu verstehen, es sei die Guerillaorganisation ELN (éjercito de liberación nacional – nationale Befreiungsfront) und diese benötige mich für einige Tage, ausserhalb von Bogotá. Zudem fragte er gleich nach meinem Kollegen Wilfried Lehner, damals Direktor der Stiftung Paz en la Tierra (Schweizer und mein Nachfolger in diesem Amt). Da Wilfried in diesem Augenblick auf der Bank war, sollten wir nun auf ihn warten, denn er werde auch von der gleichen Organisation erwartet. Zur selben Zeit wurde das gesamte Büropersonal in einem Zimmer eingeschlossen und es wurde ihnen streng befohlen nicht zu schreien. Zudem wurden auch alle Telefonleitungen durchschnitten. Als nach einer halben Stunde Wilfried Lehner erschien, wurden wir angewiesen, in einen vor dem Haus wartenden Jeep einzusteigen und los ging die Fahrt. Wir fuhren südlich aus der Stadt Bogotá in eine mir unbekannte Gegend. Nach 2 Stunden kamen wir auf ein kleines Bauerngehöft und mussten in den 2. Stock hinauf. Unter der Stiege sah ich eine grosse Menge von Esswaren: Kartoffel, Mais, Kochbananen, Reis etc. Nicht ohne eine gewisse Ironie sagte ich zu Wilfried: die Sache wird lange dauern: bis wir dies alles gegessen haben!!

In diesem Bauernhaus warteten bereits einige Entführte, andere kamen im Laufe des Nachmittags noch dazu. Gesamthaft waren wir 8 Geiseln: 5 Ausländer ( 2 Schweizer, ein Franzose, eine Schwedin und ein Mexikaner) und 3 kolumbianische Zeitungs- und Fernsehleute. Die junge, kolumbianische, Fernsehansagerin, Gloria Gómez, war kurz vor den Mittagsnachrichten im Schönheitssalon, um sich auf die Mittagsnachrichten vorzubereiten. Sie wurde auf dieselbe Weise entführt wie wir, keine Zeit mehr um weitere Schönheitsmittel aufzutragen!!

Meine Gedanken waren in erster Linie bei meiner Familie; ich wusste nicht, ob Ana Dilia, meine Frau und die Kinder Claudia Cristina und Julián bereits informiert wurden. Tatsächlich war es so, dass innerhalb dieses ganzen Durcheinanders im Büro niemand daran dachte, meine Familie zu unterrichten. Erst als ich am Abend nicht, wie gewohnt, Daheim erschien, fragte Ana Dilia nach der Ursache.

Und nun begann der Alltag der Entführten: einerseits wurden wir von den Guerilleros genau über die Lebensordnung informiert; militärisch streng war alles bis ins kleinste Detail vorgesehen. Ungehorsam wurde nicht geduldet. Andrerseits begannen wir 8 entführten uns kennen zu lernen. Obwohl der Schrecken über diese Entführung in den ersten Tagen noch tief in den Knochen sass, begannen wir gegenseitig Kenntnisse und Erfahrungen auszutauschen. Dieser Schritt machte das Zusammenleben ein bisschen erträglicher.

Der grösste Schreckensmoment war für mich der zweite Abend etwa gegen 22:00 Uhr. Wir befanden uns alle bereits im Bett, alle im selben Zimmer. Die Zimmertür stand immer offen, das Licht durfte nicht ausgeschaltet werden und ein Guerillero musste uns die ganze Nacht bewachen. Ich konnte nicht gleich einschlafen und sah besorgt auf den Wachmann.

Neben der Schusswaffe hatte er noch eine Granate in der Hand. Und plötzlich sah ich, wie diese aus seinen Händen rutschte und auf den Boden fiel.

Mir war sofort klar: bis hierher hast du es geschafft!! Meine letzten Gedanken an meine Familie. Doch die Sekunden vergingen und es passierte nichts. Die Handgranate explodierte nicht und ich konnte noch ein Dankesgebet sprechen. Ob ich in dieser Nacht noch etwas schlafen konnte, ist mir nicht mehr klar, wahrscheinlich kaum!

Und so vergingen die Tage. Man machte uns klar, dass das eigentliche Ziel dieser Entführung eine Art Pressekonferenz sei, nur müssten wir noch auf die ELN-Chefs warten. Nach drei langen Tagen kamen diese und die Sache konnte losgehen.

Nach einer kurzen Einführung in die Konferenz war die ganze Sache ziemlich klar: man wollte uns über die von ihnen strikt abgelehnten Praktiken der Regierung informieren, welche grosse Naturvorkommen zu Schleuderpreisen an ausländische Grossfirmen praktisch verschenkte. Bei diesen Vorkommen handelt es sich um: Erdöl, Kohle, Erdgas, Gold, Smaragde etc. Mit gut erarbeiteten Statistiken wurden wir während 3 Tagen mit diesen Fakten bombardiert. Diese Entführungen sollten nun bezwecken, dass wir, vor allem die Ausländer, diese Zahlen und Fakten in den jeweiligen Ländern veröffentlichen. Nach dem 2. Tag Versammlung kam eine sehr interessante Diskussion zustande, denn die meisten, vor allem die Zeitungsleute, hatten auch eine grosse Erfahrung auf diesem Gebiete. Und jetzt, nach 4 Tagen auf dem kleinen Bauerngut ergab sich, was man in diesen Fällen das Syndrom von Stockholm nennt: eine sich schrittweise ergebende Sympathie zwischen Entführern und Entführten. Die Guerilleros nahmen ihre Masken ab und auch wir konnten uns freier bewegen. Das Gesetz, dass bei jedem WC-Besuch an der offenen Tür ein Guerillero stehen musste, wurde schlussendlich aufgehoben und wir konnten unsere Geschäfte ruhiger abwickeln. Vor allem für die entführten Damen war dies eine grosse Erleichterung.

Was die Vortrags- und Diskussionsinhalte angeht waren wir in vielen Punkten der gleichen Meinung. Es ist tatsächlich so, dass hier viele, wertvolle Vorkommnisse in der Natur, zu Schleuderpreisen ausgebeutet und verkauft werden. Heute (2018) immer noch! Ich denke hier an die Schweizer Grossfirma Glencore, die in riesigen Mengen Kohle im Norden Kolumbiens abbaut und zu hohen Preisen (mit Riesenverdienst) in Europa verkauft.

Nach dem 6. Tag dieses eigenartigen Aufenthaltes auf dem Land sassen wir stundenlang zusammen, plauderten und tranken Whisky. Mir fiel besonders auf, dass einige der jungen Guerilleras ihre kleinen Kinder dabei hatten und betreuten. Diese spielten oft zwischen Puppen und den Waffen ihrer Mutter.

Und noch ein für mich wichtiges Detail: am 3. Tag fragten mich die Entführer nach meiner Familie in Bogotá und wie wir (meine Frau und ich) uns im Alltag anredeten. Tatsächlich nannten wir uns gegenseitig “mijita” und “mijito”, etwa meine Kleine und mein Kleiner. (immer noch, obwohl wir schon über 70 sind!!). Diese Intiminformation gab ich gerne weiter. Und tatsächlich telefonierte an diesem Abend eine Guerillera meiner Frau Ana Dilia und gab ihr herzliche Grüsse von “mijito” und versicherte ihr, dass es mir den Umständen gemäss gut gehe und dass ich sie herzlich grüsse. Eine riesen Erleichterung für meine Frau und die Kinder.

Nach dem 6. Tag informierte man uns über die Rückkehr nach Bogotá. Dies sei nicht immer ein leichtes Unterfangen, weil es schon geschehen sei, dass die Soldaten oder die Polizei die Entführten finde und diese töte, um damit die Guerilla in ein schlechtes Licht zu rücken; so zumindest die Entführer. Ob dies stimmt kann ich nicht sagen. Auf alle Fälle kamen wir mit drei Autos nach Bogotá. Noch vor der Einfahrt in die 10-Millionen Stadt ruft die Fernsehansagerin Gloria Gómez in ihr Studio und gab die notwendige Information über unsere Übergabe ab. So kamen wir zusammen bis in ein bekanntes Restaurant im Zentrum von Bogotá. Während die Guerilleros uns aussteigen liessen und sofort danach verschwanden, traten wir ein. Ich sah bereits die Fernsehkameras und fühlte mich wieder in Sicherheit. Müde, mit einem Bart von 7 Tagen, aber glücklich; es war vorbei!!

Wilfried und ich trafen uns dann anschliessend in der Stiftung Paz en la Tierra mit unseren Frauen und Angestellten. Welch eine Freude einander wieder umarmen zu können! Dank sei Gott kam alles zu einem guten Ende, es hätte auch anders herauskommen können.

Die Frage kam dann immer wieder: in Kolumbien bleiben oder in die Schweiz zurück??

Nach langem hin und her entschlossen wir uns, vorerst in Kolumbien zu bleiben. Und dies aus folgenden Gründen:

  •  Mit unserer Arbeit fühlten wir uns dermassen engagiert, dass ein Fortgehen vorerst nicht in Frage kam.
  • Für meine Frau Ana Dilia wäre es doppelt schwer gewesen, ihre Familie und ihr Umfeld hier zu verlassen.
  • Zudem fühlten wir uns auch solidarisch mit so vielen Opfern des kolumbianischen Konfliktes und schlussendlich
  • Eine neue, sinnvolle Aufgabe in der Schweiz zu finden wäre sicher nicht leicht gewesen.

Wenn wir heute, nach 30 Jahren, diesen Entscheid nochmals fällen müssten: wir wären sicher in Kolumbien geblieben!

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