Die Frau des Jahres – Yeisuly Tapias

In den letzten Kapitel habe ich immer wieder von unseren Bemühungen gesprochen, dass die in unseren Projekten beteiligten Menschen ihr Bewusstsein stärken müssen: ihrer Rechte und Pflichten als Menschen und Bürger des Staates inne werden, auch wenn sie zu den ärmsten Schichten gehören. Dass wir dabei wahre Wunder erleben konnten scheint zweifellos. Von einem solchen “Wunder” möchte ich heute schreiben.

Die junge Frau heisst Yeisuly Tapias und ist heute 29 Jahre alt. Ihre Kindheit ist geprägt vom kolumbianischen Konflikt: mit ihren Eltern und 8 Geschwistern lebten sie auf einem kleinen Bauernhof in San Diego, in einem Dorf im Dept. Caldas, wo wir schon seit 25 Jahren viele Menschen unterstützen (apoyar). In diesem Teil des Departementes bekämpften sich damals die Guerilleros und paramilitärischen Gruppen aufs Blut. Wer in den Verdacht kam, mit der gegnerischen Gruppe zu sympathisieren oder sie zu informieren, musste mit einem sicheren Todesurteil rechnen. So auch der Vater von Yeisuly. Die rechtsstehenden paramilitärischen Verbrecher hatten den Verdacht, dass er die Guerilleros mit geheimer Information bediente. So wurde er entführt, während 8 Monaten wusste die Familie nichts mehr von ihrem Vater, vielleicht hatten sie ihn in dieser Zeit schon ermordet.

Die Mutter namens Virtud (auf deutsch Tugend) musste mit ihren 8 Kindern nach San Diego ziehen, wo sie sich auch nicht sicher fühlte. So reisten sie bald darauf mit dem wenigen Hab und Gut nach La Dorada, einer Stadt am Magdalenafluss, mit rund 100’000 Einwohnern, wo sie sich einigermaßen sicher fühlten. Die ersten Monate und Jahre waren für Mutter Virtud ein enormer Kreuzweg: ihr Mann und Vater von 9 Kindern entführt und eine riesengroße Armut. Mit Kleider waschen und Häuser putzen hielt sich die grosse Familie über Wasser. Zu dieser Zeit begannen wir diese und andere von der Gewalt vertriebenen Frauen zu unterstützen (apoyar). Es entstand die Organisation von organisierten Frauen von San Diego (AMOSDIC: Asociación de mujeres organizadas de San Diego, Caldas). Sie widmeten sich der Herstellung von Kleidern und deren Verkauf. Dieses klein begonnene Projekt hatte viel Erfolg und die finanzielle Situation der Frauen und ihrer Familien begann sich zu besseren. Meine Frau Ana Dilia begleitete die Arbeit dieses Vereins. Damals war Yeisuly rund 16 Jahre alt. Wie sie, gab es auch viele andere vertriebene Jugendliche, die mit viel Opfergeist in die Schule gingen, aber ihre Zukunft war doch sehr dunkel. So bgann die Stiftung Apoyar mit einem Projekt zur Förderung dieser Jugendlichen. Es entstand ASOJE (Asociación de Jóvenes Emprendedores), Verein unternehmerischer Jugendlicher.

Zur selben Zeit versuchte der inzwischen freigelassene Vater von Yeisuly sein verlassenes Bauerngut in San Diego wieder in Griff zu bekommen. Obwohl man ihn riet, darauf besser zu verzichten, ging er mehrmals auf seinen kleinen Hof. Schlussendlich wurde er eines Tages in La Dorada ermordet, von wem weiss man heute noch immer nicht. Doch sicher hat es mit seinem Bauernhof zu tun. Ein neuer Schlag für seine grosse Familie!
Zurück zu Yeisuly und dem Jugendverein! Beeindruckt vom Erfolg ihrer Mutter und deren Geist zur Überwindung der schlimmen Situationen nahm sie immer aktiver an den Arbeiten der Gruppe teil. Nach kurzer Zeit war sie der denkende und führende Kopf der organisierten Jugendlichen. Die Arbeit mit dieser Gruppe von vertriebenen Familien war gar nicht einfach: die meisten litten unter psychologischen Schwierigkeiten. Aus diesem Grunde mussten wir immer wieder den Psychologen der Fundación bitten, die Jugendlichen zu begleiten. Mit einem Stipendium unserer Organisation konnten die meisten jungen Menschen ihre Mittelschule abschliessen. So auch Yeisuly, die dann mit einem Studium für Sozialarbeit begann. Inzwischen war sie die absolute Leiterin der Gruppe.

Zur selben Zeit wurde das Landwirtschaftsministerium auf sie aufmerksam. Diese Regierungsinstitution unterstützte ein Programm zur Förderung von Landjugendlichen in ganz Kolumbien. Yeisuly wurde gleich in dieses Programm eingebunden und erweiterte ihre Arbeit auf ganz Kolumbien. Ihr Erfolg war gross, so dass eine weitere Organisation sie ins Visier nahm: CAFAM. Es handelt sich hierbei um eine der grössten Sozialinstitutionen des Landes. Unter anderem ist sie die wichtigste Familienausgleichskasse Kolumbiens. Seit rund 30 Jahren wählt sie jährlich die Frau des Jahres, eine grosse Ehre, die jener Frau zugute kommt, die sich in besonderer Weise für ihre Mitmenschen eingesetzt hat.

Und diese Ehre fiel 2016 auf Yeisuly Tapias, mit nur 26 Jahren. Dieser Preis spornte sie an, weiterhin noch mehr für ihre Mitmenschen, vor allem die Jugendlichen aus dem Land, zu tun. Inzwischen wurde sie auch von einer internationalen Frauenorganisation in Genf eingeladen (www.woman.ch) Wahrscheinlich wird sie im Herbst dieses Jahres in die Schweiz kommen und auch dort einen Ehrenpreis erhalten.
Obwohl sie damit die Grenzen von Apoyar weit gesprengt hat und nun eine nationale Persönlichkeit ist, ist ihre enge Beziehung zu uns geblieben. Und sie bekennt immer und immer wieder, dass Apoyar dieses in ihr flammende Feuer entfacht hat.
Aber nicht nur Yeisuly sondern auch ihre jungen Freunde von damals in La Dorada sind alle denselben Weg gegangen. Die meisten arbeiten als Sozialarbeiter in verschiedenen Teilen des Landes.

Anad Dilia und Richard Aufdereggen

Für mich ist dies ein zweifelloser Beweis, dass unsere Methode der bewusstseinsbildenden Sozialarbeit auf dem richtigen Weg ist.

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